Reisebericht 2019

Nepal 2019

1. Diesmal kommt erst am letzten Tag vor dem Abflug die Freude auf Nepal auf. Davor nicht, wahrscheinlich wegen meiner Erkrankung im vorigen Jahr. Sie muss so gravierend gewesen sein, dass ich innerlich alles von Nepal weggeschoben hatte. Das kommt mir bei der Ankunft, in den ersten Tagen: Ich sehe alles wie neu, als ob ich nie dagewesen wäre. Langsam erhebt sich Nepal wieder.

Auch der Flug ist wie neu, als ob es mein erster wäre. Ich bestaune in Arabien, bei der Zwischenlandung in Doha, die teure moderne Architektur, utopisch. Und vergleiche sie mit der einfachen Feuerstelle von Kalu, Kuls Ehefrau, in ihrer Küche in Angpang. So weit ist die Welt auseinander.

Am Flughafen von Kathmandu denke ich: Ich rieche die Tempel, ihre Düfte.

Kul empfängt mich mit einer extra prachtvollen Blumenkette. Er ist voll im Stress, hat aber auch den vollen Überblick und ist gut drauf. Er erzählt von seinen Sorgen wegen der Schule in Maidane, wo es für uns im Frühjahr so schwer gewesen war, das Geld für einige Lehrergehälter zusammenzubringen. Wenn es nicht geklappt hätte, hätte er die Betreuung dieser Schule abgegeben.

Jetzt kommt noch dazu, dass die Regierung für die von ihr bezahlten Lehrer eine Gehaltserhöhung beschlossen hat, 20 Prozent. Also sollten die übrigen Lehrer auch mehr bekommen. An den nepalesischen Schulen ist meistens die eine Hälfte der Lehrer vom Government eingestellt, die andere vom Dorf. Der Elternbeirat oder der Rektor muss dafür bei den armen Bauern betteln gehen. Oder er hat Glück und eine ausländische Organisation springt ein, wie es „Kinder von Nepal“ macht. Wir übernehmen solche Gehälter in Angpang, Maidane, Pattle und Mude.

Kul war im Frühjahr wegen der Sorgen um Maidane so mitgenommen, dass er in eine gesundheitliche Krise geriet. Marina bekam es mit, als sie im Mai ihre Augentests machte. Sie sagte: „Thomas, sprech´ das an, ich hab mich nicht getraut.“ Ich hab´s gemacht, weil ich es am ersten Abend in Angpang gravierend mitbekam. Kul reagierte sofort und machte sich wieder klar. Es hält seitdem.

Jetzt bei Kathmandus Flughafen, nach wieder erhöhter Visagebühr (48 Euro für 30 Tage), steigen wir in ein klappriges Taxi, dessen Tür lange nicht aufgeht. Der Fahrer, ein freundlicher Mann mit Pferdeschwanz, bringt uns zur kleinen Familienpension „Souvenir Guesthouse“ am Rand von Thamel, dem Touristenviertel. Dort ist ein Weltwunder geschehen: Der Feldweg vor der Tür ist geteert. „Kein Staub mehr!“, strahlt Madan, der Eigentümer, und der Second-hand-Bookshop daneben muss seine Bücher nicht mehr einschweißen.

Wir gehen in den winzigen Imbiss „Om Lumbini“ gleich daneben, ein super Restaurant im simpelsten Stil, wo Vater, Sohn, Onkel und Neffe kochen – im Schatten eines riesigen neuen Hotelkomplexes, der noch nicht fertig ist. Aber er hat schon vier Geldautomaten vor der Tür.

Kul erzählt hier mehr von Maidane. Die Schule hat inzwischen zu viele Lehrer. Es wird zu teuer für uns. Man könnte vielleicht zwei aus dem Grundschulbereich kündigen, sagt er. Wenn man ihnen eine Prämie gibt, ist das nicht so schlimm.

Später, in Maidane, sprechen wir mit dem Kollegium darüber. Die Lehrer argumentieren dagegen: Es geht nicht. Jeder Lehrer wird gebraucht.

Kul berichtet in dem kleinen Restaurant, durch dessen Tür man so schön die Menschen vorbeieilen sieht, auch von Angpang. Dort bekam er von der Regierung einen neuen Rektor bezahlt, Gayn. Aber dieser schmale, freundliche Mann unterrichtet altmodisch und ging deshalb in Kollision mit dem jungen Lehrerteam. Dieses wird unmerklich angeführt von Deek, dem klugen, sympathischen Englisch- und Physik/Chemielehrer. Es kracht dauernd. Hunderte von Krisengesprächen halfen nicht. Kul ist am Ende seiner Weisheit.

Ich lerne dabei: Die kleine Schule von Angpang ist kein Wald- und Wiesenidyll, wo man mal so lasch ein bisschen unterrichtet und ansonsten das Leben genießt, sondern es ist eine ambitionierte Schule wie bei uns, mit intelligenten Lehrern wie bei uns, die ihre Ziele haben. Und die – wie bei uns – in verschiedene Lager zerfallen können.

Kul würde Deek gern behalten und deshalb Gayn zurückgeben. Aber das geht nicht, weil Gayn ein Regierungslehrer ist und vier Jahre bleiben muss. Ähnlich ist es mit der neuen Lehrerin Orzona. Jeder klagt über ihre laxe Einstellung zum Unterricht. Sie sei zu faul. Aber sie muss vier Jahre lang ertragen werden.

Positiv ist immerhin, dass Kul die neue Schultoilette noch einmal verbessern konnte. Sie ist jetzt innen ordentlicher und bekam vor allem ein flaches Betondach – was die Zuschussgeber der Regierung, die an ein Spitzdach dachten, nicht für möglich gehalten hatten. Aber Kul, der geborene Architekt, hat es einfach gemacht.

2. Ich bestätige Kul auch, dass wir dank Werners Initiative genug Spenden haben, um im abgelegenen Höhendorf Pattle künftig den Assistenzdoktor für eine Gesundheitsstation zu bezahlen. Kul strahlt und ruft sofort den Rektor dort an, Lakpa Sherpa. „Lakpa-Sir!“, sagt er, „es klappt.“ Was heißt: Wir kaufen gleich Notfallmedikamente. Es wird eine superschwere Kiste mit 100 Euro Inhalt, in einer abgelegenen Straße von Kathmandu erstanden, wo es nur Läden für Apothekenbedarf gibt.

Kul schleppt diesen Karton zunächst klaglos, aber ich kann ihn überreden, eine Rikscha zu nehmen. Die bricht fast zusammen. Aber Kul strahlt: Es ist so ein schönes Gefühl auf diesen wackligen Rädern.

Später wird diese Kiste auf den Großraumjeep nach Angpang geschnallt. Dann kommt sie in einen Jeep nach Maidane, der in der Schlammpiste fast untergeht. Anschließend trägt sie der 17-jährige Mingma, ein Schüler aus Pattle, in einem Rucksack stundenlang auf 2600 m hoch zum Haus von Lakpa. Ich setze mir die Last dort auch mal auf: Bestimmt 27 Kilo. Aber Mingma winkt ab: Das wiegt doch nichts, locker zu tragen. Kein Problem.

Kul erzählt jetzt in Kathmandu bei einer Tasse wunderbaren Zimttees noch von seinen Bemühungen, einen Heilsaft zu destillieren, den man teuer verkaufen kann. Die Idee dazu bekam er im Vorjahr, als wir bei Lakpa waren, und der Schulrektor eine Flasche herzauberte, die so etwas wie Wodka in sich hatte. Ganz klar. Aber es war kein Schnaps, sondern ein Heilmittel mit dem Geruch von Wick Vaporup – destilliert aus den Blättern eines bestimmten Busches.

Kul reagierte sofort, kaum heimgekehrt. Angpang hat jetzt auch eine rostige Destille. Fünf Leute sind angestellt. Frauen pflücken die Zweige. Die Büsche werden dadurch licht und können keine Bären mehr bergen. Männer schüren und brodeln und füllen ab. Jeder hat etwas Arbeit.

Aber die Idee zog Kreise. In Angpang traten Konkurrenten auf. Auch in Pattle sahen wir beim Hochmarschieren vier neue rostige Destillen. Die Preise fallen entsprechend. Die Angpang-Destillateure taten sich schon zu einem Ring zusammen, um ihre Lage zu retten.

Ich ließ Kul ein Fläschchen da, damit er mir etwas von dem Wundermittel schickt. Ich werbe dann bei unseren deutschen Heilkräuterfirmen dafür.

Kul erzählt in dem kleinen Imbiss weiter von seiner Rente. Denn irgendwann, in einigen Jahren, ist er 60. Und dann will er nicht mehr ackern und organisieren, sondern ruhig dasitzen und vom Erlös seiner Papierbäume leben. 500 hat er schon gepflanzt. 3000 kommen dazu. Alle sechs Jahre kann man die Rinde für die Papierherstellung schälen. Hunderte von Frauen ernten sie. Die Rinde fliegt nach Japan. Das geht fünf Mal so, dann ist der Boden ausgelaugt. „Ich bin ein Investor“, sagt Kul. „Ich bringe Arbeit nach Angpang.“

Kul wollte ursprünglich Kräuter für den Export nach China anpflanzen. Aber dieser Markt ist weg, weil die Chinesen bei jeder Lieferung die Samen der Pflanzen aus den Paketen schüttelten und damit selber Felder anlegten. Sie entkamen so auch den Tricks indischer Händler, die Steine in die Kräuterbündel steckten, um alles schwerer nzu machen.

Kul schwebt auch vor, dass die Regierung für alle ihre Projekte (Wasser, Strom) Anteilscheine auflegt, welche die Dorfbewohner kaufen können. „Dann ist jeder dabei.“ Er will so die Jugend reinholen. „Die haben Ideen. Die muss man halten. Sonst sind sie weg, im Ausland. Und Nepal ist leer.“

3. Ich frage Kul nach Laghu, die so sympathische, gehbehinderte Frau, die nach den Schneider-Kursen in Kathmandu in ihr Dorf zurück gekehrt war. Die kleine freundliche Frau Niru Rai, die sie in Kathmandu immer beim Nähen begleitet hatte, ging fort. Kul vermutet, dass sie mit ihrem neuen Wissen selbst eine Schneiderei aufmacht.

Laghu geht es jetzt gut, sagt er. Ihre Eltern unterstützen sie. Sie könnte auch in ihrem Dorf zur Schneiderin werden.

Wir können sie nicht besuchen, weil ich diesmal so wenig Zeit habe. Doch Kul will im November zu ihr in die Berge fahren.

Kul spricht auch die Spende von Werner an, die er zwei jungen Familien in Angpang schickte, die Nachwuchs bekommen hatten. Kul spürte, wie das Unruhe auslöste. Jemand fragte ihn: Warum bekommen nur diese Familien Geld? Ein Vater wollte den Gesamtbetrag. Kul: „Besser nichts mehr geben.“

Er spricht auch den Wunsch von Werner an, einen neuen „Reporter“ zu finden, der in Mails über die Neuigkeiten aus Angpang berichtet. Der junge Lehrer Deek wäre geeignet dafür, will aber nicht. Und es gibt kaum neue Themen. Doch Tage später, an einem Abend in seinem Haus, sagt Kul: Wenn er in Rente ist, dann schreibt er einmal richtig über Angpang. Über alles, was er bisher aus Rücksicht nicht gesagt hat. „Wer alles gegen mich arbeitet. Die wahre Situation.“

Einer, der zum Beispiel nicht mitzieht, ist der reichste Mann im Dorf. „Obwohl er der Gebildetste ist, bremst er alles. Beim Schulneubau war es so, bei der Bankgründung und beim Landkauf dafür.“

4. Ich bleibe einen Tag in Kathmandu, um gleich etwas für unsere Weihnachtsstände zu kaufen zugunsten von Angpang – Decken, Schals und Filzsachen. Ich gehe dafür auch durch den alten Basar südlich von Thamel. Und treffe in einem Tempelinnenhof auf eine Schneiderin, die mir ein Loch in der Hose flickt. Ihr lachendes Gesicht scheint aus einer alten nepalesischen Zeit zu kommen und eine ganz alte Kultur zu tragen.

Eine Gasse entfernt kaufe ich einem einfachen, dunkelhäutigen Mann vom Dorf etwas Ananas ab. Sein Fahrrad ist sein Verkaufstisch. Ich will ihm 20 Pfennig schenken, aber er hat so einen guten Charakter, dass er es nicht nimmt. Er gibt mir still mehr Obst dafür.

In einem düsteren Seitengang, ganz an dessen Ende, verkauft ein Mädchen nepalesische Sim-Cards fürs Handy. Sie hat auch Buskarten nach Pokhara. „Wenn Sie von Angpang zurückkommen, kaufen Sie bitte Ihr Ticket bei mir.“

Irgendwann verlaufe ich mich und frage einen zurückhaltenden, schmalen Mann nach dem Weg. Er scheint arbeitslos zu sein und ganz in Ruhe mit sich selbst. Er führt mich genau bis zu der Kreuzung, wo ich wieder durchblicke.

Nah bei den berühmten Durbar-Tempeln ist ein kleiner Laden für Joghurt, für den ebenso berühmten „curd“. Ein großer Becher kostet nur 65 Cent. Er schmeckt hier ist extrem gut, ganz nepalesisch mit Nüssen dekoriert.

In einem winzigen Basarladen setze ich mich später für Momo hin, eine Art Ravioli. Hier bedient ein Junge, vielleicht 14, der immer lacht. Angeboren. Aus ihm wird mal was, denke ich. Nur wegen seines Lachens. Wie wichtig ist das Lachen.

Am Abend treffe ich zweimal ein armes Mädchen, das einen guten Trick hat, um an Geld zu kommen. Es verkauft den Touristen für einen Euro eine Mineralwasserflasche, die es im Laden für 15 Cent bekommen hat. Auch eine alte Frau spricht mich an, ob ich ihr nicht für einen Euro eine kleine chinesische Stofftasche abkaufe. „I remember you!“, lacht sie, weil ich sie am Abend vorher schon mal getroffen hatte und ihr nur 50 Cent schenken konnte, mangels mehr Kleingeld.

Ich schlafe schwer ein, weil es so warm ist Ende August. In der Nacht spielt jemand stundenlang Geige. Sehr schön.

5. Am nächsten Morgen geht es um 4.30 Uhr los zur Fahrt nach Angpang, 280 Kilometer nach Osten, erst an einem großen Fluss entlang, dann rauf in die Berge. Alles sehr malerisch. Kul holt mich ab. Unser kleines Taxi fährt über leere Straßen zum Startplatz der 10-Sitzer-Jeeps. Hunde schlafen im toten Winkel von Kreuzungen, mitten drin. Einige Rollerfahrer sind unterwegs. 25 Meter von uns entfernt rutscht ein Junge damit aus, fällt hin und schlittert mit seiner Freundin auf dem Sozius kurz über den Asphalt. Nichts passiert, denkt jeder. Und ich nehme es als ein gutes Zeichen für diese Reise, denn bei der Fahrt zuvor, 2018, waren wir auf einen blutenden Mann gestoßen, der in der Nacht regungslos im Staub lag. Die Reise damals war dann für meine Gesundheit dramatisch geworden.

Interessanterweise wiederholt sich so ein Rollerunfall bei der Rückkehr nach Kathmandu, zehn Tage später. Wir sehen rechts auf dem Gehsteig plötzlich Männer aus den Ladentüren schießen und als Gruppe gebannt nach vorn starren, lachend und fasziniert: Zwei Rollerfahrer sind dort zusammengestoßen. Wegen eines Vorfahrtproblems, aber ohne Schaden.

Wir sitzen also jetzt im Jeep nach Angpang, und los geht’s in die weichende Nacht. Kul erzählt unterwegs von einem Groß-Plan, den er für Angpang hat. Irgendwo hat er nämlich eine Stadtplaner-Idee gesehen, die er umsetzen will: Die dorfeigene Bank errichtet ein neues Bankgebäude, das auch ein Lager für Kartoffeln enthält. Rundum gibt es acht neue Wohnhäuser, deren Wege (passend für Motorräder) sternförmig auf das Gebäude zulaufen, durch grünen Rasen. Was auf ihren Feldern wächst, wird in dem Lager untergebracht, bis der Bank-eigene Lkw kommt und es zu Märkten fährt.

Das Ganze soll nicht irgendwo oben an der Straße in die Prärie gesetzt werden, sondern 150 m von Kuls Haus entfernt, in die schmalen Terrassen. Nur stimmt dort ein Grundbesitzer nicht dem Verkauf zu. Aber vielleicht wird es noch.

Ich hab´ ein bissl eine Vermutung, was Kul dabei denkt: Sein Sohn Mekh hat nämlich inzwischen eine florierende Polstermöbelproduktion aufgebaut, die typisch nepalesisch an Genialität grenzt. Das Know-How dafür brachte er aus Arabien mit, aus seinen Jahren in den Emiraten.

Die Werkstatt besteht im Moment nur aus Holzpfosten & Wellblech, auf eine Terrasse gequetscht. Von außen sieht sie windig aus, aber innen ist alles erstaunlich: Beste West-Maschinen stehen in Bergen von Hobelspänen, hölzerne Einzelteile bilden Haufen, ein Schneidermeister näht Bezüge. Der Showroom für die Produkte ist 100 m weiter im Keller des Bankgebäudes.

Jetzt könnte Kul so denken: Mekh übernimmt die alte Bank (oben Büro, mittig Werkstatt, unten Showroom), geleitet von der jungen Manila, seiner Tochter (sie studiert gerade Wirtschaftsmanagement in Kathmandu), und die Bank zieht in das neue Gebäude.

Denn der Bank geht es gut. Ganz Nepal staunt, wie gut. Kul erzählt von den vier Männern an ihrer Spitze, die in ihrer einfachen Kleidung an geschniegelt-gebügelten Banktreffen in Kathmandu teilnehmen, wo die Geld-Elite pikiert sagt: „Was sind denn das für Bauern?“ Dann hört sie von deren Umsatz und schweigt. Und schickt Neu-Dorfbänker aus Myanmar und Vietnam vorbei, damit sie von Angpang lernen.

Der Umsatz ist so groß, dass Kul als Revisor 20 Tage braucht, um alles nachzurechnen. Er liebt Mathematik, aber das ist Stress.

Jetzt organisiert er per Handy alles so, dass ich am letzten Tag in Angpang an der Hauptversammlung der Bank teilnehmen kann. Dann hat zwar der Chef der Dörfer-Verwaltungsgemeinschaft keine Zeit zu kommen, aber sein Vize hat zugesagt. Eine Frau.

6. Bei dieser Fahrt nach Angpang schlafe ich dauernd ein. Wegen des Jetlag, der Zeitverschiebung. Irgendwann sehe ich zwei Schmetterlinge quer vor der Kühlerhaube vorbeiflattern. Sofort wird unser Fahrer vorsichtiger.

In den Pausen höre ich Kul weiter zu. Er berichtet vom Kohlsamen, den er im vorigen Jahr aus Deutschland mitgebracht hatte und der gut anwuchs. Und vom Mais, den alle in Angpang anpflanzten im Frühjahr. Aber erst kam kein Regen, dann vier Tage und Nächte lang zu viel. Der Mais schoss hoch. Sturm kam auf. Er lag flach. Nur seine kleinen Maispflanzen hielten stand, weil er sie zwischen Kartoffeln gesetzt hatte. Das macht er jetzt immer.

Unser Jeep hält in Okhaldhunga, der Bezirkshauptstadt. Es ist eine Boomtown, wild und bunt wachsend. Dort könnte Mekh auch einen Showroom für seine Möbel einrichten, schlage ich vor. Aber Kul winkt ab. Da gibt es schon Konkurrenz. Sie fertigt Polstermöbel mit Sprungfedern, was Mekh noch nicht kann.

Später laufe ich in Pokhara aus Spaß alle Straßen ab und sehe viele Möbelläden. Mit spektakulären Designs in Sachen „Polster“. Mekh müsste mal durchgehen, sage ich zu Kul. Kopieren.

In Okhaldhunga gerate ich am Rand in ein Geschäft für Eisenteile, Kunststoffe und Bewässerungstanks. Ein sympathischer junger Mann sitzt drin, mit fließendem Englisch, obwohl er nur in der Regierungsschule war, nicht in einer teuren englischen Boardingschool. Er ist klug. Er würde gerne auch mal wie ein Tourist ins Everestgebiet wandern, sagt er. Aber er hat das Geschäft geerbt. Sitzt fest. Trotzdem geht er mal los.

Kul erzählt, wieder unterwegs, von den Weberinnen von Angpang, dass praktisch nur noch seine Tochter Manjita übrig ist vom alten Team. Sie möchte jetzt die breiten Stoffe weben, welche die Schneiderei „Kleiderstolz“ in Dinkelsbühl später zu Hemden nähen kann, „handwoven in Nepal“. Aber die alten Webstühle sind zu schmal. „Jetzt baut ein Zimmermann einen breiteren Webstuhl.“ Auf ihm können dann auch Tischdecken entstehen.

Kul ist momentan auch dabei, eine holländische Entwicklungsgesellschaft für Angpang zu interessieren, damit sie den Bauern Tipps für besseres Düngen gibt. Aber es ist nicht leicht, da ranzukommen. Viel Verwaltungskram.

Dann rückt Angpang näher. Ein Polizist steht noch im Weg im Dorf davor. Unser Jeepfahrer befürchtet Komplikationen. Furchtsam hält er an. Aber Kul beugt sich von hinten vor: „Servus!“ Er kennt den Mann. Der winkt uns weiter.

7. In Angpang steht ein Torbogen aus Zweigen oben an der Straße, als Begrüßung für mich. Wir laufen die 100 Meter steil bergab zu Kuls Haus. Dort steht Philipp, 19, aus Hamburg – an der Wand von Kuls Küche gelehnt, unsicher, wer dieser „Mr. Thomas“ ist, auf den sie seit Tagen warten. Philipp ist seit drei Wochen hier, um Englisch zu unterrichten. Nach dem Abitur beschloss er diesen Besuch in Nepal. Und fühlt sich superwohl. Umgekehrt achtet ihn ganz Angpang – weil er so gefühlvoll ist, Helligkeit bringt, Witz hat und gut aussieht. Und überall mit anpackt. Besser als Philipp kann hier kaum einer sein.

Er scherzt mit Kalu, Kuls Ehefrau, und sammelt nepalesische Wörter. Wenn Kul über ihn spricht, breitet sich ein Lächeln aus. „Mr. Philipp“, sagt er, „ist mein jüngster Sohn.“

Philipp steht immer früh auf, setzt sich außerhalb auf einen Stein und genießt den Blick auf die hohen Schneegipfel des Himalaya. Dann joggt er mit Deek, dem Englischlehrer, weit die neue Straße hinauf. Dann geht er in die Klassen und kommt um 16 Uhr total erschöpft wieder den Berg hoch. „Ich hab nicht gewusst, dass das Unterrichten so viel Energie braucht.“ Aber er ist auch jeden Tag ergriffen von der Zuneigung der Kinder. Sie sind begeistert von ihm.

Philipp war so schnell zuhause in Angpang wie noch nie in einem Ort. „Es ist ein besonderes Dorf.“

Jetzt laden wir ihn ein, mit zu den Schulen zu gehen, wo wir arme und waise Kinder unterstützen. Philipp ist froh, damit etwas Seltenes zu erleben: Wie die Spenden aus Deutschland direkt ankommen.

Wir lernen bei dieser Wanderung und in jeder Klasse: Hinter manchem dieser Kinder steht ein hartes Schicksal, das man so im Vorbeigehen nie vermuten würde. Kul sagt: 30 von 100 Kindern haben schlechte Eltern. Es fehlt eine Schulfürsorge.

8. Aber bevor es losgeht, werde ich erst einmal in der Schule von Angpang begrüßt. Mit einem Meer von Blumenketten. Philipp erwischte es bei seiner Ankunft ähnlich. „Ich hab überhaupt nicht mehr rausschauen können.“ Ich hatte zwar vorgeschlagen, mir nur eine Blumenkette und sieben Schals zu überreichen, aber Kul zuckt mit den Schultern: „Hab ich so weitergegeben. Die Lehrer haben nicht drauf gehört.“

Bei diesem Festakt spricht auch der Schülersprecher Nishan Magar, ein fröhlicher, offener Junge. Als Kul dann Tage später klagt, dass er keinen Nachfolger hat in seinem Amt der Dorfleitung, sage ich: „Du brauchst nur durch die Klassenzimmer zu gehen. Du siehst da so viele begabte Kinder. Du brauchst sie nur zu fördern. Zum Beispiel Nishan.“

Bei dieser Begrüßung übergibt Kul auch die Brille aus Hamburg an ein Mädchen, die das einzige Ergebnis von Marinas ausführlichen Augentests war. Ganz schüchtern lässt es das über sich ergehen.

Am Nachmittag laufen wir das kurze Stück zur Schule in Mude, oberhalb von Angpang. 14 Lehrer unterrichten hier 185 Kinder in zehn Klassenstufen. Dort bezahlt KvN das Gehalt eines Lehrers – von Kishor Shah (Mathe, Physik, Chemie) – und unterstützt fünf Kinder. Für jedes übergebe ich also 130 Euro.

Kul hat für die Kinder kleine Bonbons mitgebracht, die Philipp und ich verteilen. Wir machen das später bei allen Schulen und sind froh drum. Denn so sehen uns die Schüler ganz nah. Philipp nimmt sich viel Zeit dafür und sieht jedes Kind herzlich an – ich genauso.

Hier in Mude treffe ich auf Bipan, den so klugen und sportlichen Jungen aus Kuls Nachbarhaus. Er muss hier die neunte und zehnte Klasse besuchen, weil Angpang nur acht Stufen hat. Später sehen wir sein Lehrbuch, einen kleingedruckten Schinken von 4 cm Höhe, in dem alles hintereinander steht: Englisch, Chemie, Mathe, Erdkunde… Die Mathe-Aufgaben haben das Niveau unserer elften Klasse. Die Englischtexte mahnen zu Öko-Denken und Wald-Erhalt, sehr schwierig formuliert. Ich bemitleide Bipan, dass er sich da durchboxen muss – kein einziges Foto, keine Farbe lockert auf.

Er fehlt jetzt auch beim Spielen auf dem Hof. Zu viel Lernen. Genau wie sein älterer Bruder Depesh (15), der zwei Stunden entfernt zur höheren Schule geht, zu Fuß. Selten vom väterlichen Motorrad abgeholt.

Aber sein Vater Rudra nimmt ihn jetzt plötzlich zu einem revolutionären Trip mit: Nach Kathmandu. Depesh strahlt. Kul meckert dagegen. „Was soll der Junge in Kathmandu? Das ist viel zu früh für ihn.“ 14 Tage später laufen wir durch Kathmandu – und treffen Rudra und Depesh! In einer kleinen Straße, zufällig. Depesh strahlt wieder. Er lacht sowieso fast immer.

Aber zurück zu Mude. Die Schule liegt fern von den zwei Dorfteilen, wo links die Sherpa wohnen und oberhalb die Magar. Kul: „Sherpa und Magar kommen selten in Ämter. In den ganzen 19 Jahren, in denen die Schule von Angpang besteht, hat es noch kein Kind in einen guten Job geschafft.“ Gut = Regierung, Militär oder Polizei. Einmal dort, zieht man die ganze Verwandtschaft mit.

Vor dem Schulgebäude mit seinen ärmlichen Toiletten dehnt sich eine triste Kleinebene. Kul hat schon einen Bagger geschickt, der planierte. „Damit man hier mehr machen kann, Fußball spielen.“

Ähnlich vorausschauend hat er in Angpang quer durch alle Terrassen schräg nach unten einen neuen Feldweg schieben lassen, fast bis zur Schule. Er endet im Nirwana. Der Sinn dahinter: Die Schule soll auch einmal zehn Klassen haben. Dann muss angebaut werden. Dann spart er die Trägerkosten für Zement und Steine. Dann fährt ein Lastwagen alles runter.

9. Die nächste Schule, zu der wir wandern, ist bei Meranding – am Waldhang gegenüber. Sie heißt Ghunsa, liegt bei wenigen alten Häusern und sammelt Kinder von weither.

Wir steigen runter zum Fluss, trinken bei einer Frau etwas Büffelmilch und rauf geht´s nach Ghunsa. Auch hier: Ein neuer Weg ist steil in den bröckelnden Hang geschoben. Oben gibt es sogar eine brandneue Piste nach Salleri, in die Bezirkshauptstadt des Distrikts Solukhumbu, quer durch den Wald gerissen. Als Alternative, falls die reguläre Straße auf der anderen Talseite mal abrutscht.

Kul erzählt unterwegs von Bären (einer ging gerade bei Salleri in eine Falle und kommt jetzt in den Nationalpark im Süden; ein Verwandter sah unlängst eine Bärin die Straße überqueren, die in jedem Arm ein Junges trug) und Schlangen. Es gibt eine Sorte, deren Biss so lähmt, dass später Teile der Arme oder Beine abfallen. „Sie steht wie aus einem Ring heraus aufrecht im Feld und greift als einzige unserer Schlangen an.“

Kul berichtet auch von unserer Büffelaktion (KvN kaufte armen Familien Büffelkühe, deren Kälber immer an andere Familien weitergegeben werden). Aus den elf sind schon 16 Tiere geworden. Aber klüger wäre es im Nachhinein gewesen, sagt er, eine Herde zu kaufen und von Hirten betreuen zu lassen, die KvN bezahlt. Wegen der Arbeitsplätze. Er will mehr Arbeit im Dorf.

In der Schule von Ghunsa bekommen wir rote Thika-Tupfer auf die Stirn, viel zu groß, viel Farbstaub davon fällt aufs T-Shirt. Und wir treffen einen nur zu bewundernden Lehrer, der mit einem langen Stock laufen muss – weil ein Bein gelähmt ist.

Franzosen aus St. Gervais halfen hier jahrelang, aber vor fünf Monaten schlief alles ein. Denn neue Leute sind in dem dortigen Verein „Ciel de Ghunsa“ (Himmel von Ghunsa). Im November wollen sie aber wieder Kontakte knüpfen zu den 13 Lehrern und 215 Schülern.

Hier gibt es eine Bücherei (wovon Angpang träumt) und sogar einen Schulkassier. Zwei junge Lehrerinnen sehen aus wie in Paris, mit makelloser Schminke und modernen großen schwarzen Brillen. Sehr intellektuell.

Wir geben hier Geld für fünf Kinder weiter. Eines von ihnen müsste am Auge operiert werden. Vielleicht kann Marinas Hamburger Arzt hier helfen, der ihre Brillenaktion leitet.

Philipp und ich besuchen noch die einzelnen Klassenzimmer und erzählen den Kindern in Kurzform, wo Hamburg liegt und wo München – und dass Hamburg vielleicht auf einer Höhe von 2 m steht. Unvorstellbar für die Kinder hier im Himalaya, die auf 2500 m Höhe unterrichtet werden.

10. Am Rückweg erzählt Kul von den Plänen für seine Schule in Angpang. Er träumt von einem Aufenthaltsraum, von einer Bücherei und einem Wissenschaftslabor. Zwei von Hundert Einwohnern haben ein Herz und spenden für sowas, sagt er. „Wir bauen etwas Großes.“ Sollen es zwölf Klassen werden? „Ja.“ Momentan sind es acht. Zehn Klassen würden schon genügen, aber weil im nahen Kerung die zwölf Klassen seit Neuestem nicht mehr möglich sind, will Kul einspringen. „Man muss Pläne haben, Träume, sonst passiert nichts. Was haben wir in den letzten 19 Jahren viel erreicht: Strom, Trinkwasser, Brücke, Weberei, Bank, Schule. Aber wir brauchen oben im Dorf noch mehr Strom, noch mehr Kapazität, weil Mekh ja seine Möbelfirma aufgemacht hat.“ Kul seufzt. „Ich hab so viele Ideen. Wenn ich daheim bin, mach ich blitzschnell meinen Bauernhof, steh dafür um 4 Uhr auf und gehe mit der Stirnlampe aufs Feld. Danach mach ich all die anderen Sachen.“

Mekh hat schon fünf Angestellte. Auch die Bank gibt fünf Männern Lohn. Sie ist so reich, dass sie nicht mehr mit anderen Banken fusionieren muss. Könnte sie dann nicht Projekte im Dorf finanzieren, frage ich. Kul winkt ab: Was an Überschuss da ist, geht in Schulungen der frisch gebackenen Banker. Der Plan: Bishnu wird Kassenrevisor (Kul schult ihn gerade); Kul gibt dieses Amt ab und macht den Vorsitzenden; Durga, der Bankgründer, wird angestellt. Ram ist der Manager und Raju führt die Kasse.

Ram und Bishnu sind Brüder und sehr kluge, kompetente Männer – die besten Freunde von Kul (und wie er unermüdliche Motoren der Entwicklung). Raju – ein ganz stiller, guter Charakter – ist der Schwiegersohn von Kul. Und der Gesamtkontrolleur der Bank, Rudra, ist Kuls Cousin. Aber er ist ein großes Problem, denn er tut nichts. Man könnte ihn entlassen, aber so etwas geht nicht innerhalb der Familie. Auch dass er den Job bekam, lag an seiner Familienzugehörigkeit. Kul konnte ihn nicht übergehen. Hätte er es getan, wäre eine ewige Feindschaft entstanden.

Am Rückweg von Ghunsa halten wir noch bei einer Familie, die in Trauer ist um den Tod der Mutter. Ihr Mann trägt deshalb weiße Kleidung. Die Söhne sind so herzlich um Philipp und mich bemüht, dass ich denke: Wenn man das Gute in Menschen sucht, dann findet man es hier.

Wir kehren auch bei Bishnu ein, was ein Schock ist: Er hat oben den alten Wohnraum komplett gepimpt, also aufgedonnert. Um Mekh zu helfen, kaufte er ihm ca. 10 m Sofa ab – die Polsterung umläuft alle Wände. Dazwischen liegt ein Teppich. Der Westen hat Einkehr gehalten. Kul: „Ich will auch einmal alle meine Zimmer mit Teppich haben.“ Aber bis dahin ist es noch lang hin, weil er es noch nicht einmal geschafft hat, den Betonboden in Wohnzimmer und Küche mit Holz zu verkleiden. „Ich muss das tun“, sagt er geknickt, „weil die Krankheit meiner Frau auch vom Betonboden kommt, sagt der Arzt. Und wir kriegen es ja auch nie richtig warm. Ich bau, glaub ich, einen zweiten Ofen ins Wohnzimmer.“

11. Wir fahren nach Maidane, zu jenem Schulzentrum, das die Lehrerin Christine Wilhelmi einst aus dem Nichts schuf, mitten in der Tundra. Ihr Hamburger Verein „Kinder in Okhaldhunga“ investierte so viele Ideen und Energie – ich denke mir beim Empfang in der Schule dort, Christine müsste hier sein und das alles sehen.

Aber noch sind wir nicht da, weil der Jeep, den Kul trotz meines Protests bestellt hat (ich wäre lieber die Hälfte gelaufen statt über den ausgespülten Feldweg zu rumpeln), in der Schlammpiste versinkt. Es ist Monsun, und irgendwann steckt der indische Wagen wirklich fest, trotz Allrad. Die Bodenplatte klebt im Morast.

Vorn probiert der Fahrer alle Gänge, hinten rudert Kul mit der Hand durch den Schlamm, durchs offene Fenster, um irgendwie anzuschieben. Philipp knippst sein Handy aus, mit dem er die brutale Schaukelei gefilmt hat. Uns warf es immer hin und her. Trotzdem ist eine Zahnbürste, die der Fahrer außen auf die Regenrinne des Wagens gelegt hatte, am Ende unerklärlicherweise immer noch da.

Ein Wunder ist, dass Kuls Frau Kalu noch in einer guten Verfassung ist. Denn früher hielt sie das Autofahren überhaupt nicht aus. Aber seit sie regelmäßig nach Kathmandu zum Arzt muss, wegen ihres Diabetes, musste etwas geschehen. Tochter Kalpana hatte die rettende Idee: Sie gab ihr Anti-Schwindel-Tabletten und ließ sie 100 m Autofahren. Dann wieder Tabletten und 200 m. Dann noch einmal und 500 m. Dann eine längere Strecke. Am Ende ganz weit und keine Tablette.

Jetzt fährt Kalu mit nach Maidane, begleitet von einer Nachbarin. Sie will ihre Schwester besuchen, die in einem einsamen Haus am Weg nach Pattle wohnt, zwei Kilometer hinter Maidane (wir kommen später dran vorbei).

Kalu lacht in dem Jeep über die Schlammlage. Ich sehe schon kommen, dass Kul wie immer aussteigt und schiebt, egal ob er bis zum Knie einsinkt. Solche Einsätze macht er, das ist angeboren. Aber auch, weil sie sich herumsprechen und bei der nächsten Wahl gut wirken. Will er noch einmal antreten? „Ja.“ Kul hat noch nicht genug vom schmutzigen Politgeschäft, das ihn bei der Lokalwahl im Juni 2017 rauswarf – obwohl er vorher gebauchpinselt worden war wie nix (dass er der große Hoffnungsträger ist und problemlos durchzieht).

Später, beim Heimweg nach Angpang, halten wir kurz bei einer Familie, deren Tochter mit zu den von KvN unterstützten Kindern gehört. Ihr Vater begrüßt uns. Kul: „Das ist der Mann, der bei der Wahl ganz knapp vor mir gewonnen hat. Aber ich hab nichts gegen ihn. Wir sind keine Feinde.“

Plötzlich packt es der Jeep wieder. Ein Wunder. Total verschmutzt rollt das Gefährt in Maidane ein.

12. In der Schule von Maidane – mit zwölf Klassen, einem Kindergarten dabei, 260 Schülern und 16 Lehrern – werden wir mit viel Freude und Blumenketten begrüßt. Die Schals bilden Berge. Wir sehen am Rand des äußerst einfachen Pausenhofs einen Neubau entstehen. Für größere Klassenräume, für das Modell „zehn Klassen + zwei Praxisjahre“ ( = Praxis für soziale Berufe, von der Hebamme bis zur Krankenschwester). Die alten Klassenzimmer sind in schlechtem Zustand. Niemand ist da, der einmal die Türen oder Fenster streicht oder innen etwas verschönt.

Wir übergeben vier armen Kindern unsere Jahresunterstützung. Wir hören von den Schicksalen dieser Kinder: Die Eltern mussten wegen einer Inzest-Heirat aus dem Dorf und der Vater starb beim Erdbeben im Langtang-Gebiet; der Vater gehört als Schmied der untersten Kaste an und muss zwei Ehefrauen und 13 Kinder ernähren; bei einem Unfall eine Hand verloren; wegen Herzproblemen muss regelmäßig eine Fahrt nach Kathmandu bezahlt werden.

Zusätzlich bekommt Chini Magar noch Geld, weil sie als einzige den Bachelor macht und das konsequent durchhält. Sie wollte in Kathmandu studieren, aber Kul überredete sie, doch ins nahe Salleri zu gehen.

Der sehr kompetente Rektor, Bhuwa Bahadur Magar, bittet uns ins Lehrerzimmer im ersten Stock. Der Zuweg oben hat seit Jahren kein Geländer. Es geht auch so. Vermutlich ist noch nie jemand runtergefallen.

KvN bezahlt bisher zwei Englischlehrer und einen „10+2“-Lehrer. Künftig werden es zwei mehr, bisher von KiO aus Hamburg getragen. Und die Schule möchte noch einen oder zwei 10+2-Lehrer einstellen.

Kul will als Ausgleich in der Grundschule zwei Stellen streichen. Aber der Rektor erklärt, dass dort jeder gebraucht wird, vor allem für Englisch. Denn wenn dieses Fach nicht angeboten wird, schicken die Eltern ihre Kinder ins Tal in eine andere Schule. „Die Regierung kümmert sich nicht um uns Dorfschulen.“ Sie gibt nur schubweise Geld, und das reicht gerade, um Baumaterial für die vier neuen Klassenzimmer zu kaufen. Erhofft und versprochen war zum Beispiel heuer eine große Summe allein für Maidane. Aber die Regierung gab nur ein Viertel davon und dieses Geld musste dann für alle Schulen im Verwaltungsgebiet reichen.

Die Fachlehrer der Oberstufe unterrichten schon in der Unterstufe, sagt Buhwar, zum Aushelfen. „Es ist schwer, unten Lehrer wegzukürzen, weil die ja variabel alle Fächer unterrichten können.“

So bleibt alles beim Alten. Mit der 20%-Lohnerhöhung kommt auf unseren Verein aber noch mehr Last zu. Ich sage, dass ich hoffe, dass wir immer genug Geld dafür haben.

Die Lehrer sind glücklich, dass wir keine Stelle streichen, und kommentieren das mit einem geflügelten Wort: „Roxy works well.“ D. h. alles ist in Butter. Oder genauer übersetzt: Raksi, der Reisschnaps, tut seine ausgleichende Wirkung.

PS: Inzwischen hatte Kul noch einmal ein Gespräch mit der Schulleitung, jetzt im Dezember. Er erreichte doch, dass ein Grundschullehrer entlassen wird.

13. Wir sehen auch bei der Gesundheitsstation vorbei. Sie hat einen alten Zahnarztstuhl aus Deutschland, der gerade leicht defekt ist. Kul verspricht der jungen Zahnärztin Samita Rai, sofort einen Monteur zu suchen. Sie und Assistentin Shrijana Magar verlangen 500 Rupi (4,50 E) für eine Zahnreinigung. Manchmal sind es 800 R und bei einer Wurzelbehandlung 1200 (10 E). Viele Leute haben schlechte Zähne. „Der Zucker, das Junkfood, die Schokolade…“

Samita kam hierher, weil es ihr Vorgänger nicht mehr aushielt auf dem Dorf in diesem Höhenklima mit dem vielen Nebel und Regen. Er muss mal seine Oma besuchen, sagte er und kehrte nicht mehr wieder.

Aber Samita geht es genauso. Sie ist ein ganz interessanter Mensch: Zart, schmal, feinfühlig und schüchtern, aber sofort umstellend auf eine souveräne Arzthaltung, sobald ein Patient da ist. Sie ist Mitte 20 und sagt mit traurigem Blick: „Ich werde hier depressiv. Weil nichts los ist. Ich vermisse junge Menschen und das Leben in Kathmandu.“

Philipp und ich besuchen sie am Abend. Sie ist begeistert von Philipp und zieht mit ihm los zur Lehrerin Uma. Diese ist seit Beginn in Maidane, viele Jahre, und auch wie gefangen: Wenn sie nachhause will, muss sie zwei Stunden lang zum nächsten Bus laufen.

Uma lebt in einer Bude so groß wie zwei Betten. Das einzige Fenster ist eine Luke. Sie kann sich gerade mal zwischen Kocher und Matratze bewegen. Ihr einziger Hoffnungsstrahl ist Facebook.

Bei Samita ist es genauso. Die Fotos auf ihrem Facebook-Account zeigen sie in einer ganz anderen Welt: Zusammen mit dem Schamanen ihres Dorfes (das Rai-Volk hat eine eigene Religion), dann festlich rot gekleidet mit goldenem Kopfschmuck beim größten Rai-Fest im Dezember in Kathmandu (sie scheint jetzt ein ganz anderes Mädchen zu sein, vollkommen traditionell und schön), dann elegant gekleidet vor Shopping-Zentren.

Sie studierte drei Jahre Zahnmedizin und könnte noch ein Jahr ergänzen. Vielleicht in Deutschland? Sie träumt von Deutschland. Philipp und ich beschließen, sie einzuladen. Irgendwie ist sie europäisch in ihrem Innern. Sie sollte Europa sehen.

Wir reden viel, Samita in bestem Englisch. Dann gehen wir auseinander in die Nacht, und am nächsten Morgen sagt Samita, dass sie träumte: Sie war traurig, ging durch eine Drehtür und plötzlich war sie froh.

„Ihr habt mich so glücklich gemacht“, sagt sie. „Allein durch das Reden gestern.“

Sie hat übrigens eine feste Lebensregel. Sie will Menschen glücklich machen. Egal wer zu ihr in die Gesundheitsstation kommt: Er soll fröhlich heimgehen.

Dass ihr das gelingt, bestätigen die Dorfbewohner, als Kul fragt, wie Samita so ist als Zahnärztin. „Sie ist jemand“, sagen sie, „der uns immer zum Lachen bringt.“

14. Ich unterhalte mich näher mit Puspa Kafle, einem Lehrer aus Rampur weiter unten, fast im Tal, der auch in Maidane unterrichtet. Auf seinem Handy zeigt er Bilder seiner Stadt, wo nahezu alle der 900 Häuser vom Volk der Brahmin bewohnt sind, der höchsten Kaste. Rampur ist gut entwickelt, sagt er. Es gibt eine Polizeistation und eine Gesundheitsstation. Die Schule ist die beste weitum. Er selbst hat drei Häuser, teils geerbt. Seine Tochter ist auf den Fotos zu sehen, vielleicht 18 Jahre alt. Seinem Sohn leiht er manchmal sein Motorrad, mit dem er immer nach Maidane fährt. Dann ist es schlammbespritzt. Puspa Kafle bittet mich zum Abschied: „Maile mir, unbedingt.“

Unser Frühstück in Maidane macht ein junges Paar, das ein Kind hat. Der Vater ist ein einfacher junger Mann, fast noch ein Schüler. Aber er gibt uns so freundlich und ehrerbietig die Milch und den Milchreis in dieser simplen kleinen Küche voller Ruß. Diese Haltung, so nepalesisch, macht ergriffen. Bei uns im Westen ist sie verschwunden.

Wir laufen jetzt los nach Pattle, von fast allen Lehrern verabschiedet. Unterwegs treffen wir zwei Mädchen, die weit umher wandern, um kleine Dinge zu verkaufen. Herzlich wünschen sie uns eine gute Reise.

Wir streifen das Haus von Kalus Schwester, bekommen geröstete Maiskolben, Gurkenscheiben und Brot. Dann geht es bergauf durch schöne Wiesen und an Bächen vorbei. Wie in einem Idyll liegt plötzlich eine Minischule da, Nalidara, vollkommen im Grün, nur von alten Mani-Mauern unterbrochen. Hier unterrichten zwei Lehrer 13 Kinder in den ersten vier Klassen. Kein Haus ist zu sehen. Die Kinder wohnen verstreut.

Unterwegs spüre ich im Schritt einen Blutegel, weil er zubeißt, und schnappe ihn. Kul erzählt, dass er einmal über seine Äcker lief, eine Tüte mit Salz in der Hand, und alle Blutegel, die er fand, hineinwarf. Denn Salz tötet sie. Seitdem hat er dort keinen mehr gesehen.

Wir steigen immer höher, an Waldflecken mit vielen Orchideen vorbei. Kul zeigt auf den Hang gegenüber, wo ein Erdrutsch ein Haus wegriss. Die Mutter wollte noch zurück und Geld holen und wurde verschüttet.

15. Irgendwann erreichen wir das Haus von Rektor Lakpa Sherpa. Es liegt noch weit unterhalb der Schule und wird inzwischen von zwei scharfen Hunden bewacht. Lakpa hält sie wegen nächtlicher Diebe und auch, um Jungs abzuschrecken, die ihm von seinem Obstbaum die Äpfel stehlen.

Ein Motorrad steht jetzt vor der Tür. Lakpa spart sich damit teure Jeepfahrten in die Bezirksstadt Okhaldhunga. Dorthin hat er inzwischen seine Kinder gebracht. Denn der Sohn, etwa zehn Jahre alt, hat die Angewohnheit, andere zu pieksen oder zu stechen. Weil das nicht abzustellen war, kam die Internatlösung. Seine ältere Schwester begleitet ihn, damit er nicht so allein ist.

Lakpa zeigt uns sein Wohnzimmer, das kaum bewohnt ist. Dort verblüfft ein neuer, wandbreiter buddhistischer Altar, bunt und gut bemalt. Zwei Männer im nächsten Dorf beherrschen diese Kunst.

Die Frau von Lakpa, Shima, braucht keine Emanzipation. Sie ist angeboren selbstständig und selbstbewusst, sehr klug. Sie war bisher Ersatzlehrerin und wurde vor Kurzem fest angestellt. Bei unserer Begrüßung auf dem Schulhof am nächsten Morgen ist sie eine der wenigen Rednerinnen. Sie spricht ernst und entschieden.

Dieses Willkommen in Pattle ist sehr herzlich. Wir erleben erst die Morgengymnastik der Kinder zu Musik und bewundern ihre Elastizität, das Tanzgefühl – auch bei den Lehrerinnen, die alles vormachen. Dann kommen jene Mütter ins Lehrerzimmer, deren Kinder von KvN unterstützt werden. Es ist ein eindrucksvolles Bild. Rechts von ihnen sitzen Frauen der Müttergruppe. Eine hat ein Baby. Es wird gelacht. Ich bewundere die Gesichter. Eine Frau hat ein römisches Profil, klar und schön.

Danach folgen die Reden auf dem Pausenhof. Kul, Philipp und ich versinken wieder in Blumenketten und Begrüßungsschals. Wir haben Zeit, die Menschen vor uns zu betrachten: Bäuerliche Frauen, Sherpa-Mütter in ihrer immer sauberen tibetischen Tracht, alte Leute. Es ist ein Märchenland, allein wegen der Kleider und Gesichter. Dann tanzen Mädchen. Und Rektor Lakpa ist glücklich, von der kommenden Gesundheitsstation zu berichten. Einen Assistenzarzt dafür hat er schon gefunden.

Unter den Rednern ist ein sympathischer, lächelnder Mann mit Anzug, Hem Bahadur Sunuwar. Wir treffen ihn später wieder, weil Philipp beschließt: Es ist so ein schöner Tag, da könnten wir noch etwas nach Westen laufen, über die Höhe. Unterwegs kehren wir bei zwei Frauen ein, die uns in ihrer dunklen Küche großzügig mit geröstetem Mais versorgen. Dann passieren wir einen kleinen Erdrusch, der nach nichts aussieht. Aber er verschüttete wieder ein ganzes Haus und seine Bewohner.

Wir betreten ein kleines, einfaches Dorf, wo die Dächer noch aus Steinplatten bestehen – Talkot. Dort leben nur wenige Familien. Sie gehören sechs Kasten an. Mit den umliegenden Bauern sind es 150 Menschen. Ihr zuständiger Politiker ist Hem Bahadur Sunuwar. Er war Trekkingführer wie Kul und gewann im Frühjahr 2017 die Wahl für diesen „Ward 7“ (Bereich 7), als Kul für seinen Ward 8 und 9 in Angpang knapp scheiterte.

Hätte Kul gewonnen, sagt er, dann hätte er ein Büro mit Sekretärin gehabt und einen Assistenten, der für ihn alle Probleme löst. Denn Kul wäre per Motorrad nur überall hingedüst, hätte mit den Menschen gesprochen und ihre Probleme angehört. Einen Tag in der Woche hätte er sich frei gehalten, ansonsten wäre er unendlich aktiv gewesen.

Und Hem? Hem zeigt uns sein Büro in Talkot. Es steckt in einem unscheinbaren Gebäude, oben im ersten Stock, und verblüfft mit schwarzen Ledersesseln, drehbar, mit Computer, Drucker und bunten Zetteln am Boden – Reste eines Workshops für eine Lehrerfortbildung.

Hem erzählt, dass ihm das Erdbeben von 2014 half, die Wahl zu gewinnen. Er lebt 1,5 Stunden Fußmarsch unterhalb, sah damals die zerstörten Häuser und bat PC-fitte Freunde, bittende Mails an alle ihm bekannten Trekkinggäste aus Australien und Japan zu schicken, damit sie Geld für den Aufbau schicken. Diese Aktion machte ihn bekannt.

Kaum gewählt, baute er eine Straße. Straßen bauen ist „in“ in Nepal, sagt Kul. Es gibt einen richtigen Wettbewerb, wer es am schnellsten schafft, eine Straße an Land zu ziehen. Hem hatte nur den Nachteil, dass er kein Geld mehr für den Teer bekam. Ein Erdrutsch im Monsunregen und das Ding ist im Eimer.

Hem würde auch gern Arbeitsplätze schaffen. „Aber wir kriegen keine Fabrik her.“

Von Talkot wandern wir zurück zu Lakpas Haus. Es wird immer dunkler und schöner: der Mond scheint, der Blick hinunter nach Rampur wird spektakulär durch die langen Nebelbahnen. Grillen zirpen und Fledermäuse fliegen. Philipp denkt an seine Mutter, die gerne fotografiert. Sie wäre begeistert.

16. In Pattle waren wir nach dem Schulempfang auch kurz in einem kleinen Restaurant. Kul raucht. Philipp will es abstellen: „I see you!“ (ich merke es!) Kul hatte schon einmal aufgehört, im April vor zwei Jahren. Sein Stress brachte ihn aber zurück – ein ähnlicher Stress, wie er ihn vor 20 Jahren hatte, als er 30 war und Touristen bei einem Trekking durch die Berge führte. Es wurde seine schwerste Tour, weil sie in Schnee gerieten, hoch bis zum Hals. Kul musste jeden einzelnen Gast herausziehen in dieser Nacht, bis um ein Uhr morgens. Danach rief er seinen Chef in Kathmandu an: „Ich bin krank.“ Der glaubte ihm nicht. Kul musste sich hinschleppen und live zeigen – „ich war so dünn wie noch nie.“

Wir wandern jetzt zurück nach Angpang, wollen aber noch kurz davor in dem kleinen Dorf Bagam stoppen, weit entfernt. Wir laufen einen ausgefahrenen Waldweg entlang, im Monsunregen gefurcht und zermatscht. Unser Handy-Höhenmesser zeigt um die 3200 Meter. Wir streifen kleine heilige Plätze, voll behangen mit weißen Schals. Einer von ihnen ist für Frauen gut. Ein anderer hat seinen besten Punkt mitten auf der Straße.

Kul führt uns aber auch abseits zu einem alten kleinen Stupa, deren untere Stufen wie Eisenringe wirken: Sie halten die Energie des Platzes für den Stupa zusammen.

Nicht weit davon laufen wir im Nieselregen durch ein verlassenes Mini-Kloster, Donde. Ein kleineres Gebäude enthält eine riesige Gebetstrommel, uralt. Ein anderes, einst reich mit Stuck verziertes langes Haus ist ohne Dach. In einem Eck der drei Zimmer hat sich ein Wanderschäfer eingerichtet. Das abgenutzte Hauptgebäude oberhalb ist der Tempel. Hier wohnte lang ein hochgradiger Mönch in seiner siebten Inkarnation. Aber weil die heilige Stimmung des Platzes erst in 3 m Höhe beginnt, ist der erste Stock wichtig. Auch unter dem Dach ist es lichtvoll. Von hier oben zeigt ein Fenster in jene Richtung, die für Gedankenflüge geeignet ist.

Wir erreichen später das kleine Dorf Jhapre, das auch einen großen Tempel hat, allerdings voll in Schuss und innen bunt bemalt. Ähnlich wie in Donde reicht hier die negative Erdstimmung weit aus dem Boden empor, die über sich immer als Ausgleich eine positive Stimmung bildet. Also startet die gute, heilige Stimmung erst unter der Decke. Und wird im Dach fortgesetzt. (Bei uns lösten die Kelten dieses Problem, indem sie begehbare Holzgestelle bauten – über der negativen Energie. Somit standen sie dann oben in der guten Energie.)

Ziel des Tempels ist es, diese gute Stimmung zu fangen, zum Wohl der Mönche. Sie meditieren dann besser. Aber die Erbauer beachteten nicht, dass sie mit dem Hausbau das ganze Land beraubten – und den Himmel. Denn der lichtvolle, positive Strahl hinauf in den Himmel, der sich oben schirmartig über das Umland ergossen hatte, ist gekappt.

Das sehe ich später auch in Kerung, dem Nachbardorf von Angpang. Dort steht ein neues, übergroßes Tempelgebäude am Rand der einfachen Bauernhäuser. Die buddhistischen Mönche halten hier jedes Jahr ein Großtreffen ab, 15 Tage lang, weil der Platz so gut ist. Der Tempel schnappt sich aber die ganze gute Energie und lässt nur minimale Abstrahlungen von den Pagodenkanten heraus (als Dünger-Licht für die kleinen Klostergärten) und reduziert den lichtvollen Hauptstrom auf einen dünnen goldenen Faden, der von der Dachspitze aus kärglich in den Himmel führt. Alles andere des Lichts bleibt im Tempel.

Als ich viel später nach Pokhara komme, 220 km westlich von Kathmandu, erlebe ich noch größere Tempel. Einer steht hoch über dem berühmten See auf einem Waldzug. Japanische Zen-Mönche setzten ihn nach dem Zweiten Weltkrieg durch, gegen den jahrelangen Widerstand der hinduistischen Bevölkerung. Dieser Riesenstupa soll dem Weltfrieden dienen – wie andere nach dem gleichen Muster in aller Welt. Aber wer ein bisschen Sinn für die Energien hat, die diese weiße Kuppel unter ihrer vergoldeten Spitze birgt (sie enthält den 14. Teil der Asche Buddhas), wird skeptisch. Denn das Ganze ist eher ein spiritueller Beobachtungsposten als ein Heiligtum.

Pokhara hat unten im Tal, beim alten Dorfkern fern vom See, einen Doppel-Haupttempel auf einem Hügel, buddhistisch und hinduistisch. Der Hügel war vermutlich einmal ein Vulkan. Dessen Negativität (der Schlot) verursacht oberhalb vom Boden viel Positives. Von hier ging deshalb einst ein enormer Lichtstrom in den Himmel. Er tat dem ganzen Land (und dem Himmel) gut. Aber was ist davon geblieben? Wieder nur der dünne Faden über dem Tempeldach. Er führt in die Götterebene, die ihn als Transportschnur benutzt: Alle Opfergaben und Gebete rutschen an ihm entlang hoch und werden oben genossen. Lockeres Partyleben: Nix tun und viel bekommen. Die Tempelgötter, die da so profitieren, sind komplett überaltert und haben eine schlechten Charakter.

PS: Kul erzählt, dass man manchmal den verstorbenen Abt/Mönch eines Klosters nicht findet, wenn er neu inkarniert ist. Wenn der Junge fünf Jahre lang nicht entdeckt wurde und er verletzt sich und verliert Blut, ist alle seine Erinnerung an das frühere Abtleben weg. Dann klappt es nicht mehr mit dem Zeigen alter Klostergegenstände, die ihn ausrufen lassen: „Das gehört mir!“

Im Kloster von Jomsom ist der Rinpoche extrem oft wiedergeboren und -gefunden worden. Einmal sah er als kleiner Junge in einem Saal weit hinten seine frühere alte Mutter und Schwester. „Sie ist meine richtige Mutter!“, rief er. Er kannte auch den Weg nach Jonsom, ohne je da gewesen zu sein.

17. Wir laufen weiter über irisch grüne, kahle Wiesenhügel und stoßen unterhalb auf ein Hirtenhaus mit Papierproduktion. Die Rindestreifen hängen zum Trocknen auf einer Stange. Ich hab mal gehört, dass sie weich geklopft werden müssen und mache das aus Spaß mit den Zähnen. Nie wieder: Hinten in meinem Hals beißt der Saft superscharf.

Wir kommen an einer einfachen Blech- und Bretterhütte vorbei, neben der ein Mädchen – vielleicht 15 Jahre alt – auf dem Boden mühsam eine Matte flechtet. „Muss nicht jedes Kind in die Schule?“, fragt Philipp. Kul zuckt die Schultern. Eigentlich schon, aber bei solchen Bergfamilien vielleicht nicht. Das Mädchen hält mit den Zehen die Bambusstreifen in Form. Trotzdem wackelt alles. Drinnen unterhalten sich drei Frauen. Die jüngste lacht immer.

Philipp entdeckt etwas weiter eine kleine Holzbude, das Klo. „Is this the toilet?“, fragt er. Kul: “Yes, made in Hongkong.”

Wir laufen abwärts, über eine neue Brücke (Kul: “Viel zu teuer! Unnütz!“) auf Jhapre zu. Unser gewohntes kleines Gasthaus dort mit seinem Hotel hat zu. Leider, denn der Eigentümer hat gerade nagelneu kleine Hüttchen für die Touristen gebaut.

Wir kommen dafür in einem ganz alten, familiären Lodge unter. Mitten im Regen. Ich stapfe nach hinten, Schirm dabei, zum Klohäuschen. Kaum komme ich wieder raus, springt mich ein Blutegel an. Er hing in einem Meter Höhe an einem nassen Gartenpfosten. Kul erzählt, dass es auch schwarze Egel gibt, die vom Boden aus starten. Und früher benutzte man sie genau wie bei uns zu Heilzwecken.

Die Wirtsfamilie ist sehr freundlich. Wir lernen wieder viel vom Alltagsleben, allein durchs Zuschauen in der rauchgeschwängerten Küche, die nie warm wird, weil ewig die Tür offen ist. Zum Beispiel muss die Tochter jeden Morgen in einem großen Steinmörser Grünzeug für die Ziegen kleinstampfen. Auch im Regen. Das Badezimmer für uns: Neben ihr, ein dicker Schlauch. Auch im Regen.

Kurz können wir in den Tempel gegenüber schauen mit seinen prachtvollen Wandbildern (oft sexuelle Szenen dabei, in der Stimmung perfekt getroffen) und alten Schriften. Sie liegen in hoch hinaufreichenden schmalen Fächern. Sie vermitteln zum Beispiel ein klares, hebendes Wissen oder erläutern, wie man Wohlergehen erreicht: sich in sanfter Stimmung hinlegen und genießen.

Beim Frühstück zeigt Philipp, wie sein Großvater immer die gekochten Eier aufschlug: Blitzartig gegen die Stirn rammen. Klappt. Jeder testet es.

Dann laufen wir weiter auf dem Feldweg nach Bagam, auf einem Höhenzug mit weitem Ausblick. Und Abgründen: Ein betrunkener Mann stürzte hier unlängst ab.

Wir halten bei der Schwester von Rektor Lakpa, die hierher heiratete – in ein übergroßes Betonhaus mitten in der Landschaft, dessen Hauptraum alles ist: Tante-Emma-Laden, Gaststube und Reishandel. Kul sieht den Betonboden und die Betonwände: „Ungesund“, sagt er. „Kriegst du nie trocken.“

Wir trinken etwas. Kul will Philipp den Vortritt lassen, weil er unser Gast ist. Aber Philipp protestiert: „I`m the assistant!“ Also nicht Gast, sondern der Unter-Boss.

Später auf dem Weg erkundigt sich Philipp, ob es irgendwo neue Hausschlappen zu kaufen gibt, weil seine weißen verschmutzen. Kul: „Nix! Du kaufst und kaufst und kaufst. Das macht bloß Müll. Du kannst sie ordentlich waschen.“ Philipp: „I´m sorry! I excuse myself!“

18. Kurz vor Bagam zieht Kul seine lehmbespritzte Wanderhose aus und eine neue an, ein Geschenk von Werner vom letzten Trekking. Wir müssen ein bisschen einen guten Eindruck geben bei den Lehrern der Schule.

Beim Weitergehen macht er eine ganz neuartige Bemerkung: „Es ist gut, dass wir die Müttergruppen unterstützen. Denn die Frauen hängen am Geld der Männer. So werden sie frei (durch ihre KvN-Projekte) und brauchen bei kleinen Ausgaben nicht mehr zu fragen.“ Früher hatte er kaum Sinn für Frauenwünsche.

In dieser kleinen Schule unterrichten acht Lehrer 90 Kinder. Rektor Ganga Ram Katel muss aber für drei von ihnen das Gehalt – je 3000 Euro im Jahr – selbst aufbringen. Wie üblich, lässt da die Regierung die Schulen hängen. Der Rektor soll bei den Bauern sammeln gehen. Nur haben die nichts. Also müssen Väter einspringen, die im Ausland arbeiten, oder ein Bergführer aus dem Dorf kann Trekkinggäste zu Spenden bewegen.

Wir unterstützen hier wieder arme Kinder, zum Beispiel das Mädchen Parbati. Seine Mutter hat Krebs. Sie selbst hat einen gelähmten Arm. Trotzdem kämpft es, um Lehrerin zu werden oder in ein Regierungsamt zu kommen.

Kul vermisst in diesem idyllischen Dorf eine politisch aktive Männergruppe, wie er sie in Angpang hat. „Man braucht Ratgeber. Es ist ein gutes Dorf hier, aber es hat keine Ratgeber.“

Ohne jede Hilfe hat es aber der Gastwirt neben der Schule zu Wohlstand gebracht. Ihm gehört die nagelneue Billardhalle vor der Tür. Er hat auch ein Fenster in der Mauer, hinter dem er Süßigkeiten für die Kinder verkauft und verstaubte Schuhe und Zahnbürsten. Seine Hotelzimmer sind sauber und die Toilette ist europäisch: Sitzklo mit Spülung. Wir sind verblüfft. Es gibt sogar gute Pommesfrites.

„Nach einem Familiendrama hat das alles der Sohn übernommen“, sagt Kul.

Schülerinnen kaufen hier noch Begrüßungsschals für uns, dann geht’s zum Pausenhof. Dort sitzen Philipp und ich und bestaunen die vielen Mütter und Omas und Opas im großen Rund, die in ihren malerischen Kleidern ein Bild wie im Märchen ergeben. Die Mädchen und Jungen hängen uns ihre Schals um, immer mit einem so herzlichen, lachenden Gesicht. Philipp ist da wunderbar: Er hat die gleiche Herzlichkeit, wenn er sich bedankt. Für einen Europäer ist das eine Besonderheit. Weil die Europäer in ihrem Innern so technisiert sind. Sie können nicht mehr so glücklich und herzlich und bescheiden sein.

19. Kalu, die Frau von Kul, wuchs hier in Bagam auf. Der Ehemann ihrer zweiten Schwester, Man, führt uns jetzt ein Stück heimwärts – an jungen Ziegendrillingen vorbei und durch einen Fluss, wo wir begeistert unsere Füße waschen nach dem Durchgehen. Dann geht es hoch nach Kerung.

Dort hat der Dorfladen idyllisch alles, was das Herz begehrt: Er ist voll gestopft mit Metallsägen, Seife, Seilen, Essen und Bonbons. Kul hat einen Jeep dorthin bestellt, der uns für neun Euro den Rest fahren soll. Acht Schulkinder erkennen ihre Chance und hüpfen auf die Rückbank, kreuz und quer und durcheinander. Sie lachen und testen ihr Englisch.

Daheim in Angpang hat Kul die Lehrer zum Tee eingeladen, weil er noch einmal versuchen will, den Streit zwischen dem neuen Rektor Gayn und den jungen Kollegen zu schlichten. Aber nur Gayn kommt. Kul ist ganz froh drum. Also ist es aus. Deek, der Sprecher der jungen Lehrer, hatte ihn vorher beim Vorbeigehen sogar beleidigt, sagte Kul getroffen. Wochen später entlässt Kul diesen so guten, immer lachenden, kompetenten Lehrer, um wieder Ruhe zu haben.

Ich werde von Chini ins Nachbarhaus eingeladen und bestaune die Bilder, die ihr Sohn Bipan abgemalt hat: Porträts vom Handybildschirm weg.

Und Kul lädt mich zur Hauptversammlung der Dorfbank ein. Es ist ein großes Event. Ich bin neben der Vizeabgeordneten des Verwaltungsbereichs der Ehrengast. Und kann von der Bühne aus die vielen Genossenschaftsmitglieder betrachten: Mütter und Omas, Väter und Opas, alle in den schönen alten Gewändern.

Ein Regenguss kommt. Die Banker-Mannschaft klettert auf einen Bulldozer, der schon tagelang herumsteht, und spannt Planen. Die Notsitz-Bretter auf dem Boden werden drunter gerückt. Es tropft und tropft, aber es geht.

Die Ehrengäste bekommen ein Extraessen im Bankgebäude, alle andern draußen. Irgendwie schnappe ich mir da Würmer auf, merke ich später. Wahrscheinlich, weil ich ein geschältes Ei bekam und am Ende statt Serviette meine Finger ableckte. Ein gutes Wurmrettungsmittel ist grüne Chilisauce aus Bhutan, aber auch scharfer Meerrettich. Immer mal einen Teelöffel voll auf nüchternen Magen nehmen, mit ein bisschen Wasser. Vier Wochen lang.

Dann naht schon der Abschied. Die sieben Männer um Kul, die tragend sind für Angpang und für die Bank, kommen am Abend, um mir Ade zu sagen. Ihr Dank für die Hilfe von „Kinder von Nepal“ über all die Jahre kommt aus tiefem Herzen. Ich denke immer, so viel machen wir gar nicht. Aber wir gaben der neuen Schule das Leben und der neuen Bank im entscheidenden Moment den Schwung.

Am nächsten Morgen geht es früh los, und alle, die rund um Kuls Haus wohnen, inklusive Philipp, sind aufgestanden zum Auf-Wiedersehen sagen. Dabei ist auch Fetmaya, die Ehefrau von Kuls ältestem Sohn Mekh. Sie hatte am späten Abend zuvor zusammen mit den Eltern von Janakil, Renuka, Anisha und Anub in deren Küche Momo für Philipp und mich gemacht. Es war so gut nepalesisch: Fetmaya rollte den Teig und stach aus, Manjita (Kuls Tochter) hackte Huhn, ihr Mann Raju formte die Momos. Alles auf dem Fußboden, vor dem Feuer des Lehmofens. Rain, ihr kleiner Junge, schlief daneben in einem schwarzen Tuch. Kul war im Eck genauso müde.

Unser Fahrer im Jeep nach Kathmandu ist jung, dünn und bewundernswert gelenkig – ein Echo des Sporttriebs der Jungs, die nie aufhören, Volleyball zu spielen. Er schnallt dicke Säcke und Kisten aufs Dach. Hinten auf dem Rückfenster des indischen Allradvehikels steht bunt: „Just married, don´t disturb because I am disturbed“ (frisch verheiratet; nicht stören, weil ich schon gestört bin).

Wir rollen bergab und bergab. Kul kauft unterwegs Bananen für mich. Ich teile sie langsam (innerlich viel zu zögernd, weil nicht gewöhnt) mit den acht Mitfahrern, wie es sich eigentlich gehört. Und bekomme dafür glückliche Gesichter als Dank.

Unterwegs treffen wir auf Schülerinnen in wunderbaren Uniformen – weiße hauchdünne Schaltücher leuchten über hellblauen indischen Saris -, auf einen alten Mann in Segeltuchsachen unter einem Segeltuchschirm, auf einem Pfosten. Wir erleben ein Teer-Kommando, das Asphalt kocht, in einer dampfenden Tonne mit einem Traktor zum Schlagloch tuckert und mit Kies einfüllt. Und wir sehen das rotbraune biblische Land am Fluss: Strohhütten, Hitze und Einfachheit.

In Kathmandu setzen wir uns in den kleinen Imbiss „Om Lumbini“ gleich neben dem schönen Familienhotel „Souvenir-Guesthouse“. Durch die schmale Tür beobachte ich das Straßenleben und kapiere: Ich sollte es sein lassen, Nepal ergründen zu wollen. Einfach alles nehmen, wie es ist. Es ist eine andere Welt, eine eigene Welt. Und ich hab Glück und kann sie erleben.

20. Am nächsten Morgen kommt Kul ganz früh, um mich zum Bus nach Pokhara zu bringen. Ich hab zwar gesagt, ich schaff das allein, weil ich die Straße kenne, wo sie zu Hunderten stehen (übertrieben: ca. 15 Busse). Aber als wir im Regen dort sind und keiner passt, bin ich froh, dass Kul da ist und herausbekommt, dass alle Tickets meiner Kompanie umgelegt wurden auf einen anderen Bus.

Rucksack-Traveller hasten auch vorbei, die ersten, weil die Saison erst in zwei Wochen beginnt. Darunter ist eine junge blonde Frau, die strahlend zu den nepalesischen Männern am Gehsteig lacht, nur so im Vorübergehen. So gut, es macht so einen guten Eindruck. Es erinnert mich an das so herzliche Lächeln eines Mädchens im Dorf Thade gleich hinter Angpang, wo unser Jeep fürs Frühstücken gestoppt hatte. Sie bediente dort, kompetent und eilig und mit schön gebundenem Haar. Und lachte zu mir hin. Und sprach sehr gut Englisch.

Die Busfahrt beginnt mit Stunden im Stau, weil irgendwo ein Unfall war und das Aufräumen dauert. Neben mir sitzt eine chinesische Studentin, übermüdet. Immer fällt ihr Kopf schlafend nach vorn. Ich krieg es hin, dass sie ihn an meine Schulter lehnt. Da schläft sie perfekt, ist aber beim Aufwachen komplett unzufrieden mit sich, weil sie sich das erlaubt hat. Macht man nicht in China.

In Pokhara finde ich dank hoher Ortsintelligenz problemlos den Weg zu Sunitas Eltern, obwohl der Busbahnhof in ein Sumpffeld verlegt worden ist (der alte Bahnhof ist im Umbau). Sunitas Mutter Laksmi begrüßt mich sehr herzlich, genauso die jüngere Schwester Sushma und ihr älterer Bruder Suman. Der Vater kommt später heim, erschöpft. Obwohl er nicht mehr arbeiten müsste, hängt er an seinem Stoffgeschäft und sitzt dort Tag für Tag auf der weißen Matratze, die auch der Tisch zum Herzeigen der Ware ist.

Mit Laksmi und Sushma fahren wir am nächsten Tag zum See, setzen mit einem Boot zum anderen Ufer über und steigen zur japanischen Friedensstupa hoch. Unterwegs treffen wir zwei alte Frauen, schmal und klein und traditionell gekleidet, die schwere Holzbündel tragen. Sie sagen, sie haben nix zu tun und rackern sich gern mal so ab.

Hinten laufen wir wieder bergab, besuchen eine große Höhle und dann die Mutter von Adesh (13), die stadteinwärts in einem kleinen Hinterhofzimmer wohnt: Maya Gurung. Adesh wird über KvN von Bärbel und Toni Eichenmüller aus Auerbach unterstützt, damit er eine gute, englischsprachige Schule besuchen kann.

Er fiel Laksmi vor einem halben Jahr auf, weil er sie ansprach, ob sie nicht einen Job für ihn weiß, damit er seine Mutter unterstützen kann. Diese hört sehr schwer und spricht deshalb auch schwer.

Sie überlebt mit dem Brauen von Hirsebier, mit dem Flechten von Maismatten und mit dem Aushelfen bei großen Feiern. Ihr Mann ist nach Kathmandu verschwunden. Er ließ sie mit zwei Kindern zurück. Aber der ältere Sohn ertrank unglücklich im See von Pokhara.

Um Adesh eine ordentliche Schullaufbahn zu geben, schickte ihn Laksmi in eine Schule mit angeschlossenem Hostel (Internat). Dort ist er aber nicht allzu glücklich, weil alles so straff zugeht. Doch er glaubt seinen Lehrern, die ihm sagen: „Deine Mitschüler und wir, wir sind wie eine Familie.“

Sushma, die Krankenschwestern unterrichtet, hat einen Blick für Kinder. Sie hält Adesh für hochbegabt. Sie hat das Gefühl, er wird ab 18 gut arbeiten und einmal reich werden. „Dann hat er immer sein Leiden der Kindheit in Erinnerung, was seinen guten Charakter erhält.“

Sie fragt ihn nach seinen Noten, weshalb er sich wegdrückt ins hinterste Eck des kleinen Zimmers, wo Bett, Gasofen und Regal alles ist, was hineinpasst.

Sunita besuchte Adesh und seine Mutter Maya einige Wochen später, als ich schon lange daheim war und sie Urlaub hatte. Sie ergänzte meine Spontanaktion (die Miete für ein Jahr übernehmen) mit einer anderen Spontanaktion: Weiße Farbe kaufen zum Streichen der grauen Wände. Essen kaufen, weil sie krank war und sich nicht selbst etwas verdienen konnte, auch etwas Kleidung kaufen.

Adeshs Mutter hat Glück, dass die Vermieterin vorn im gut aussehenden Straßenhaus so freundlich ist. Sie lässt sie in ihrem Garten helfen und gibt ihr Gemüse.

Maya selbst ist ansonsten ohne Chancen, weil sie keine Schulbildung hat. Das war damals nicht üblich. Nur Männer durften lernen. Ihr Vater war zwar ein Priester der Brahmin-Kaste im Dorf weitab von Pokhara, aber seine hörbehinderte Tochter hatte nichts davon.

Seit ich ihr miserables Zimmer sah und die anderen miserablen Zimmer daneben, alle wie kleine Ställe für 18 Euro Monatsmiete, schau ich in Pokhara in die Gärten. Überall sind solche Billigzimmer eingebaut.

Pokhara hat seine Armut – obwohl Susman als Bankangestellter sagt: „Pokhara hat nur reiche Leute.“ Die Armen leben unter der Oberfläche. Ihre Rettung kommt nur, sagt Sushma, wenn es einer aus der Familie schafft, im Ausland zu arbeiten. Sein Geld unterstützt dann alle.

21. Laksmi nimmt mich weiter mit zu Yug (11), den zweiten Jungen, den KvN unterstützt – über Traudl und Günther Albrecht aus Pegnitz. Sie tun schon immer viel für indische Kinder und entschlossen sich, auch hier zu helfen. Damit er Schulgeld hat und versorgt ist.

Yugs Mutter Srijana Shah lebt etwas besser als die Mutter von Adesh. Es ist ein ärmliches Mietshaus mit einem schmalen betonierten Hinterhof, zu dem alle Zimmertüren gehen – unten und oben, über einen offenem Umgang. Es sind immerhin drei kleine Zimmer (für 9000 Rupi Miete im Monat = 78 Euro). Zeitungen dienen als Tapete. Der einfache Gasofen spiegelt die übrige Ärmlichkeit.

Yugs Mutter ist eine Schönheit. Und lacht immer. Aber durch die fehlende Schulbildung ist alles schwer. Sie kann nur einfach rechnen und nicht lesen.

Ihr Mann war lange weg und kehrte erst vor Kurzem zurück. Er kauft auf einem Minimarkt billig Kleidung und verkauft sie wieder in der Stadt auf dem Gehsteig. Die Mutter hat auch ihren festen Platz auf einem Gehsteig, wo sie von morgens bis abends sitzt. Spät kommt sie mit ihrem Kleiderbündel heim, in der Nacht.

Beide stammen aus dem fernen Dorf Berinagar, das am Start des Wegs zum Annapurna liegt. Ihre Großeltern haben dort noch ein Haus.

Yug hat zwei Schwestern. Die älteste, 17, ist sehr begabt und konnte deshalb mit einem Stipendium aufs College gehen. Die andere Schwester, 16, ist wie Adesh in einer Schule mit Hostel.

Yug ist ein immer lachender Junge, der gut Englisch spricht. Auch Adesh hat in der kurzen Zeit auf seiner neuen Schule schon genug Englisch gelernt, um mit mir zu sprechen. Als wir durch die Stadt laufen, hält er immer meine Hand. Ich bin der Vaterersatz. Mutig, ohne ein Zucken, fragt er gestandene Männer nach dem Weg. Das ist er gewöhnt: Er muss ja immer für seine Mutter sprechen.

Wenn er einmal Geld hat, sagt er, spart er es. Sein großer Wunsch ist deshalb einem Spielzeugladen eine Spardose. Sunita kauft später beiden Jungs kleine Fahrräder. Sie sind ihr ganzes Glück. Adesh kann damit leichter vom Hostel nachhause kommen.

22. Damit ist mein Reisebericht am Ende, und ich füge nur noch kleine Notizen an. So begegnete ich der besten Freundin von Sushma, Durga. Sie ist das moderne Nepal: Hellwach, hochintelligent, frei. Obwohl erst Mitte 20, war sie schon als Journalistin beim Lokalradio. Im Moment ist sie aber ohne Arbeit, was man zwei Jahre lang durchhalten kann, sagt sie – weil einen die Familie immer miternährt.

Sie kennt ausländische Literatur, erarbeitete sich den Traum vom Motorroller und will nicht heiraten. Denn dann fällt jede Frau unter die Herrschaft des Mannes, die er sich aus dem Hinduismus herlegitimiert, obwohl nichts davon in den Büchern steht.

Durga befürchtet auch, dass ihr Partner sie nicht versteht. Ohne Heirat, nur in Freundschaft, darf sie aber mit keinem Jungen gesehen werden. Dann heißt es, sie ist ein leichtes Mädchen, das ihn verführt hat.

Durgas Schwester studiert in Irland. Ihr Bruder ist das totale Gegenteil von ihr selbst, nämlich sehr schüchtern. Und Durga, die Kunst liebt, liebt auch das Kino. Pokhara hat sechs oder sieben davon, und genau wie Sushma (und viele junge Nepali) liebt sie Kriegs- und Horrorfilme.

Ich laufe aus Spaß alle Straßen von Zentralpokhara ab und lande dabei im alten Ursprungsdorf mit seinen schönen Ziegelsteinhäusern. Dort sagt ein Schild „Photomuseum“. Drinnen hütet ein früherer Lehrer die Aufnahmen seines Vaters vom Landleben damals. Daraus machte der Sohn ein phänomenales Buch: Pokhara einst und jetzt im genauen Vergleich. Ich lerne hier, dass es in Nepal so wie bei uns die klugen Stadthistoriker gibt. Dass aus dem Dorf in nur 65 Jahren eine Industrie- und Geschäfts-Boomtown wurde. Ich erfahre vom ersten Flugzeug und vom x-mal gebrochenen Staudamm und vom ersten elektrischen Licht. Vom Sturz der Rana-Herrscher und dem Aufstieg und Fall der Fotografie. Vom ersten Touristen aus Japan, einem Mönch, der um 1900 sagte: So schön wie hier ist es nirgends.

Zurück in Kathmandu, strömt der Regen. Als unser Bus hält, schlägt ein unglaublicher Blitz mit einem gewaltigen Schlag ein. Männer zucken reaktionsschnell zurück zu den Hausmauern. Alles wartet starr. Aber es kommt nichts mehr. Der Donner hat bestimmt seine Bedeutung.

Ich würde hier gern noch den Jungen Samrakshak (10 Jahre alt; 3. Klasse) besuchen, den Werner Narr über KvN schulisch betreut. Seine Mutter putzt bei einem Onkel von Sunita im Geschäft. Sunita unterstützt das zweite Kind. Aber es klappt nicht, weil der Vater Divas Raj Regmi vom Dengue-Fieber betroffen ist. Er ist krank. Diese Dengue-Fliege war bisher nur in Kambodscha eine Gefahr. Aber der Klimawandel brachte sie nach Nepal. Jeder passt seitdem auf und viele Geschäfte haben elektrische Fliegenfänger aufgehängt.

In einem Teeladen verkaufen zwei Brüder aus der östlichen Provinz Ilam sehr guten „homemade tea“ von der eigenen Farm. Sie sehen aus wie Araber. Ja, sagt der eine, wir denken, dass unser Volk europäische Wurzeln hat, dass wir aus Russland oder Israel stammen. Kul meint, so etwas kann durch Kriege kommen. Denn er weiß von einem Mann aus seinem Volk der Magar, der im Zweiten Weltkrieg im fernen Ladakh mitten im Hochhimalya eingesetzt war und dort von einer Frau zurückgehalten wurde. 112 Menschen der Familie sind seitdem halbe Magar.

Später treffe ich in einem Kleinbus einen Nepalesen, der – vielleicht 35 – das Abbild des guten, herzlichen nepalesischen Mannes ist. Er hat es in ein Regierungsamt geschafft, mit weißem Hemd und grauer Anzugshose. Er berichtet von den 112 Völkern des Landes, den 123 Sprachen und zehn Religionen. „Diversity is our dignity“, sagt er. Das ist der Staatsspruch. „Die Verschiedenheit ist unsere Würde.“

Im nahen Zoo von Patan komme ich noch mehr als bei meinen Wanderungen durch die Straßen von Pokhara auf „den“ Nepalesen. Weil dort aus allen Schichten die Liebespaare und Familien unterwegs sind. Ich sehe die Vielfalt. Leute mit Weitblick. Andere mit Erdbezug. Jeder hat etwas anderes Besonderes.

Am Flughafen sitzt ein hipper junger Mann neben mir, Sportjacke, lässig, Schirmmütze, Sonnenbrille. Und Kamera. Ob er mich fotografieren kann, für seinen Blog. Dieser Student bekam die Chance, in Salt Lake City zu studieren. Vorher war er nie aus Kathmandu herausgekommen. Er studiert Informatik. Das erste Jahr in den USA war hart, weil er in Nepal wegen der vielen Feiertage immer nur 120 Tage Unterricht hatte. Und es gab keine Computer in seiner Schule, so dass er nur die Theorie mitbekam.

In Salt Lake City leben ungefähr fünf Nepalesen. Zwei davon kennt er. Wenn er fertig ist, will er zurück und Nepals Internet gegen die Hacker schützen. Er hofft, dass Kathmandu bis dahin aus seinen Problemen raus ist mit dem Verkehr, dem Trinkwasser und dem immer zusammenbrechenden Stromnetz. Der Flughafen ist okay, sagt er, aber dahinter…