Reisebericht 2023

von Thomas Knauber

Es war ein ereignisreicher Oktober, vom Erdbeben-Spüren  bis zum nächtlichen Festsitzen unseres Jeeps in einem ausgefurchten Bergweg, wo Uma, unsere Verteilerin der KvN-Unterstützung in Nepal, fast erfror. Das war am Rückweg von der Schule in Patle.

Uma nahm mich so gut auf. Und sie verbindet jeden Satz mit einem Lachen. Und ist ideal für das Verteilen unserer Kinder-Unterstützung, weil sie eine Lehrerin ist, genauso wie ihr Mann Raju ein Lehrer. Beide verstehen gut die Lage der Kinder und der Lehrer in diesen abgelegenen kleinen Schulen.

Zusätzlich haben sie Utsab als Sohn, einen Wunderjungen. Er ist 17, geht zu allen Spendenübergaben mit, ist mit dem Handy-Kram fit wie nix und genau wie Uma froh, über „Kinder von Nepal“ einmal andere Schulen zu sehen. Und andere Lehrer.

Utsab ist zum Beispiel beeindruckt vom Rektor in Tingla, einem strengen, aber freundlichen Mann: „Er unterstützt KvN extra, weil er als Kind auch von einem ausländischen Verein unterstützt worden ist, bis zu seinem Studium. Ich will einmal so sein wie er,  und genauso viel weitergeben an andere Kinder.“ Für ihn sind Werner und ich Vorbilder. Ich als Vorbild – ich war ganz überrascht. Aber das kommt, weil auch Uma und Utsab erst durch die Spendenfahrten genau mitkriegen, wie viele arme Kinder es gibt. Und wie gut es ist, dass wir in Deutschland einen Verein dafür haben.

 

1.

Die Reise beginnt mit dem ICE von Nürnberg nach Frankfurt: Überfüllter Zug, alles auf dem Boden sitzend überlebt. Der Schaffner hat Mitleid: „Wenn Sie Samstag/Sonntag fahren, müssen Sie immer einen Platz reservieren.“ Aber es gibt eine Regel: Was schlecht anfängt, endet gut.

Im Flughafen merke ich, dass ich das Fliegen nicht mehr beherrsche. Nach drei Jahren Corona – alles vergessen. Wo ich welchen Schildern nachhetzen muss. Dann das Wechselbad zwischen durchgefilztem Hochverdächtigem (Schuhe aus, Gürtel runter) und verwöhntem Gast im Flugzeug – auch überlebt. Es gab drei solcher Kontrollen.

Dann Kathmandu: Das Eintauchen in die verstaubten zerbrochenen Bürgersteige, in die wirr hängenden Stromkabelbündel, in den Verkehr. Eine Stunde im Taxi im Stau bis zum kleinen Hotel „Souvenir Guesthouse“ durchgeruckelt. Um uns Motorräder, Motorroller, Motorräder. Der Taxifahrer fragt nach meinen Kindern, ob sie arbeiten. Seine drei Kinder haben keine Stelle. „Ich bin der einzige, der Geld verdient.“

Unterwegs die Frauen bewundert. Trotz all des Einfachen, trotz der wirren Shops und Häuser sind sie so sauber, schön gekleidet. Und ich fühle mich wie neu, weil ich seit 2019 nicht mehr da war. Erst am zweiten Tag bin ich wieder der gewohnte Kathmandu-man.

Madan und Samjhana Karki leiten das begrünte kleine Hotel am Rand des Touristenviertels Thamel. Sie sind junge Eltern. Der eine ihrer zwei Söhne ist geistig behindert. Samjhana erzählt von ihrem seit drei Jahren geschwollenen Knie so gut wie eine Bio-Öko-Europäerin – alles probiert, alle alternativen Methoden. Madan hat Bluthochdruck wegen Stress. Er muss das Hotel abbezahlen und so viel erwirtschaften, dass das Gehalt der Zimmerfrau hereinkommt.

Beide haben viele holländische Gäste. Manche von ihnen leiten Nepal-Hilfsvereine. Für sie prüfen Samjhana und Madan immer die Zeugnisse von unterstützten Schülern, die in Kathmandu studieren. Sie machen es jetzt auch für uns. „Kein Problem. Wir laden die Schüler zum Tee ein und besprechen ihre Ergebnisse.“ Werner und ich sind froh darüber. Weil wir überlegt haben: Wie kriegen wir eine Kontrolle hin, wenn unsere begabten Dorfkinder hier weiterlernen?

2.

Der Mann von Uma, Raju, kommt dann mit Sohn Utsab extra nach Kathmandu, um mich nach Okhaldhunga zu holen, 225 km im Osten, wo sie wohnen. Für beide ist diese 8-Stunden-Fahrt eine Freude: Sie kommen mal aus den Bergen raus.

Sie haben einen 9-Sitzer-Jeep bestellt, der für 11 Euro jeden mitnimmt. Ich muss um 4.30 Uhr aufstehen und vor der Hoteltür warten. Sehe dort den Müll-Gogerern zu, die mit ihrem Handylicht die Säcke aus den Hotels durchsuchen, bevor sie wie ein schwarzer Mammutberg auf Fahrräder geladen werden und zu Müllplätzen geschoben. Ich höre daneben x-mal aus den kleinen weißen Taxis, die durch die Schlaglöcher rumpeln,  den Satz: „Taxi, Sir?“ und erblicke endlich meinen indischen Allrad-Jeep.

Dessen Fahrer muss noch eine Stunde durch das nächtliche Kathmandu kurven und telefonieren, telefonieren, wo noch ein Gast wartet, wo eine spezielle Adresse ist in den versteckten Gassen. Wo er Post mitnehmen kann.

Dann geht es los. Raus nach Osten, hinauf auf eine hohe Talkante – von wo ich auf die andere Talkante sehen kann, hinter der im reinsten Weiß eine lange Gipfelkette des Himalaya erstrahlt. Es ist das erste Mal, dass ich das sehen kann. Ich denke mir: „Unglaubliches Nepal.“

Stunden später ist dieser Blick zu, voller Dunst. Aber das lange Tal des Sunkoshi-Flusses kommt mit einer Schönheit, die allein den Flug nach Nepal lohnt. Dort treffen sich die Zeiten: Es gibt biblisch altertümliche Dörfer und neue Hotelanlagen mit großem Pool. Es gibt die Allrad-Jeeps mit Rückfahr-Kamera und Mini-Bildschirm am Spiegel und davor die wandernden Grasbüschel am Straßenrand, riesengroß. Wo Frauen und alte Männer mühselig für ihre Tiere gesammelt haben und heimschleppen.

3.

Irgendwann biegt die Straße nach oben ab. Wir durchfahren sonnige Kurven, dann die Wolkenzone mit Regen, danach wieder Sonne. Fern liegt Okhaldhunga da, wie ein kleines Tuch aus Häusern auf einem grünen Bergrücken, oberhalb von tiefen Tälern mit einer Terrassen-Schönheit wie in Bali.

Uma wartet vor ihrem schmalen roten Haus, einem verwitterten Mini-Wolkenkratzer mit 4,5 Stock – und hat schon Pläne, welche Schulen wir besuchen, wo KvN unterstützt. Am Ende habe ich von den Lehrern diese Liste in der Hand:Maidane: Nötig sind zwei Lehrer für die oberen Klassen. Bisher geben alle anderen Lehrer zwei Stunden zusätzlich, weil sie an die Zukunft der Kinder denken. Aber deswegen haben sie keine Pause. Und können nicht schon um 8 Uhr anfangen, erst um 10 Uhr.

Nötig sind 15 Laptops, 10 Whiteboards à 160 Euro, ein Smartboard à 1000 Euro, Bälle für Fußball, Volleyball, Basketball; Badmintonschläger; und Geld für Möbel.

Die Regierung schickt nur immer Lehrer für ein paar Monate. Alle Bitten nach festen Zusatzstellen sind zwecklos.
(Maidane hat 180 Kinder und 15 Lehrer)

Kerung: Es sind zwei Englischlehrer nötig vom Kindergarten bis zur 5. Klasse. Ein Gehalt dafür: 2150 Euro.

Wir unterstützen hier 13 arme Kinder. „Aber es gibt 100 arme Kinder“, sagen die Lehrer vorwurfsvoll.
Die Schüler laufen 1,5 Std einfach her, gefährdet durch Bären. Es gab schon zwei Tote. Am Besten wäre ein Hostel für 35 Kinder = 32 000 Euro.

Die Lehrer brauchen Fortbildung. Der Kursleiter käme nach Kerung = 2100 Euro

(Kerung hat 370 Schüler in 12 Klassen und 16 Lehrer)

Patle: Es sind zwei Lehrer für die 8. bis 12. Klasse nötig, weil nur drei dafür da sind. Die Regierung schickt nur immer Aushilfen für drei Monate, bisher fünf Mal.

Der Spielplatz braucht Geräte.

Der Healthpost, bisher von KvN getragen, wurde von einem anderen Auslandsverein übernommen, vom Adman Hilary Trust.
(Patle hat neun Lehrer für 246 Kinder)

Angpang: Es gibt vier Regierungslehrer; die fünf anderen bezahlen bisher wir. Die Schule versuchte intensiv, mehr Regierungslehrer zu bekommen. Keine Chance, sagt Rudra Magar als Leiter des Schulkommitees. Wenn KvN nicht mehr hilft, warnt er, geht die Schule von 8 auf 5 Klassen herunter. „Sie ist eine kleine Pflanze, von KvN mit gepflanzt, und geht ohne eure Unterstützung ein.“

Wir bezahlten bisher auch den Healthpost-Assistent. Aber das geben wir künftig an die deutsche „Nepalmed“.

(Angpang hat 124 Kinder und 9 Lehrer)

Bagam: Nötig ist ein zusätzlicher Lehrer für die 94 Kinder.

Tekanpur bei Okhaldhunga, wo Raju unterrichtet, der Ehemann von Uma: Es fehlt ein Lehrer für Science ( = 3150 Euro Gehalt im Jahr). Es gibt nur sieben Klassen für die 94 Kinder, weil es nur vier Lehrer sind. Die Regierung beantwortet die Bitten von Rektor Sita Ram Dahal um mehr Lehrer nicht mehr. Die Lehrer müssen je zwei Klassen pro Zimmer unterrichten, weil Räume fehlen.

Es gibt fünf sehr arme Kinder. Hier soll KvN helfen.
Alle Kinder haben weite Schulwege bis zu 1,5 Std.

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Wenn irgendwer irgendwo mit einer Spende helfen kann: Der Einsatz lohnt. Es ist eine Hilfe in der rauen Bergwelt, die etwas bewirkt.

4.

Uma ist enorm. Ich bekam einen wunderbaren kleinen Konditorkuchen als Willkommen. Und hatte viel Schokolade als Geschenk dabei – sehr geschätzt. Utsab verteilte seinen Riesenblock an alle Freunde.
Uma lacht nach jedem Satz. Sie nimmt die Schulkinder immer in den Arm oder an die Hand und spricht ermutigend mit ihnen. Trifft sie Ex-Schülerinnen auf der Straße, umarmt sie diese. Bei der scharfen Diskussion in Maidane mit den verärgerten Lehrern (wegen Kul´s Verhalten) ist ihr Lächeln eine gesamte Beruhigung. Sie darf auch nicht weg aus dem Kollegium, sagt sie. Ihr Rektor gibt keine Zustimmung. Obwohl die Schulen in Tingla und Okhaldhunga sie haben  wollen. Sie will den brutal langen Weg von Okhaldhunga nach Maidane nicht mehr 2 x die Woche  – am Freitagabend heim, am Sonntag früh die 27 Kilometer in endlosen Kurven zurück.  Jetzt machte sie extra eine Zusatzausbildung, damit sie wegkommt.

Und Uma ist wie viele Nepalesen: Super beim Telefonieren. Egal welches Problem – zack! Handy raus. Und sie kocht mit einer Leichtigkeit, mit ihrem Lächeln. Aber ihr Mann Raju ist ein bissl frustriert, weil unterbuttert. Er sagt: „Uma kann alles. Uma weiß alles.“

5.

Uma ist so herzlich. Hab ich also eine gute Zeit da oben im vierten Stock, im Himmelreich. Ihr Sohn Utsab ist 17 und top. Geht auch mit der Oma, 87 (und kerngesund), so gut um. Er sagt ihr laut vor und kippt ihr Öl in einen Becher – weil die alten Leute drauf schwören. Alles am Körper muss in Öl gerieben werden. Manchmal meckert sie, sagt er, aber nur, wenn sie an ihren Mann denkt. Er war ein Diktator. Dann kontert sie ihn.

Ich bekam bei Uma auch erstmals mit, dass einige von unseren Paten viele Familienbilder von Deutschland zu den Kindern oder Uma schicken. Sie freuen sich drüber. Denn sie sehen mal den Enkel von jemandem im Wohnzimmer spielen oder eine Reise nach Italien oder eine Geburtstagsfeier. Dieser Kontakt muss nicht einmal in Englisch sein, weil die Kinder das Google-Übersetzungsprogramm draufklicken und sofort alles in Nepali haben.

Uma´s Mann Raju unterrichtete 17 Jahre lang von Maidane aus in einem Dorf abseits. Dafür lief er 1,5 Stunden hin und genauso viel zurück. Und er lief als Jugendlicher zweimal nach Kathmandu. Beladen mit Salz und Kerosin. Drei Tage gebraucht für die 225 Kilometer.

Der Name „Uma“ kommt übrigens von der Ehefrau des Super-Gottes Shiva, die auch als Parvati bekannt ist – die Göttin der Liebe und Harmonie. „Utsab“ heißt Festival, Feier, Freude. Und „Raju“ kommt aus dem Indischen: der Prinz, der König.

Uma und Raju lebten lange in einem kleinen Raum in Maidane, gleich bei der Schule, wo auch Utsab geboren wurde. Erst spät wagten sie, Land zu kaufen – in Okhaldhunga, wo gute Schulen sind. Diese kleine Fläche bebauten sie. Unten ist jetzt an drei Parteien vermietet. Aber diese Einnahmen reichen gerade, sagt Raju, um die Kosten von Wasser und Strom zu bezahlen. Er und Uma müssen jeden Monat viel an ihre Bank abgeben, allein um die Zinslast  für ihren Kredit zu senken. Ihre große Hoffnung ist, dass Utsab einmal im Ausland viel Geld verdient und das Haus abbezahlt. 30 000 Euro sind noch offen.
Die Banken nehmen bis zu 32 Prozent für einen Kredit. Das war auch vor Jahren der Grund für Kul, in Angpang eine Dorfbank zu gründen, die mit 16 Prozent arbeitet.

6.

Uma nahm vor 20 Jahren einen verwandten Jungen auf, der heute Englischlehrer ist und inzwischen überqualifiziert für seinen Job in einer Dorfschule. Aber er kommt nicht weg davon – die Regierung bietet ihm keine Anstellung an einer Universität. Also kann sich dieser Suman, ein sehr herzlicher, sehr schnell sprechender Mann (28), in die Kolonne jener Nepalesen einreihen, die das Land verlasssen und in Korea, Singapur, Malaysia, Norwegen, USA oder Kanada nach Chancen suchen. Täglich fliegen über 400 Nepalesen weg in ein neues Leben. Im Radio läuft ein Lied dazu: „Wo ist meine Heimat? Ich hab Sehnsucht nach meiner Heimat, wenn ich da draußen bin…“

Uma nahm vor acht Wochen auch eine Schülerin auf, Laxmi, 17 Jahre alt. Ihre Mutter starb vor vier Jahren durch einen Erdrutsch. Der Vater blieb mit den fünf Töchtern zurück. Aber weil er kein Land hat, muss er bei anderen Bauern als Hilfsarbeiter anfragen. Er kann seine Kinder nicht ernähren. Deshalb erkundigte er sich überall, wo die Mädchen unterkommen können – in den Dörfern gibt es keine Kinderheime.

Laxmi – ihr Name kommt von der Göttin für Reichtum, Aufblühen und Erfolg – ist schmal und scheu. Aber wenn sie lacht, geht die Sonne auf. Es wird licht im Zimmer. Utsab liebt sie – endlich eine Schwester. Und sie liebt die Familie – vor allem Uma.

7.

Raju und Uma bauten ihr Haus nach und nach. Erst nach zwei Jahren kam der dritte Stock und nach einem Jahr Pause der vierte. Unregelmäßigkeiten bei der Gehaltszahlung von Uma an der Schule in Maidane verursachten damals große Schwierigkeiten. Auch Kolleg-innen ging es so. Uma schildert deren existentiellen Probleme, weil die deutsche Schul-Unterstützung nicht funktionierte bzw. Kul als Koordinator. Inzwischen ist alles besser, sagt sie. Ein neuer Rektor und neue Kollegen machen endlich einen Strich drunter.

Ich schlafe in ihrem Haus unter dem Badezimmer, das ein hervorstechendes Merkmal hat: einen kleinen Korb mit ca 80 Zahnbürsten, alle schief gerubbelt – deshalb haben die Nepalesen so weiße Zähne.
Wenn ich aufwache, höre ich Ochsen brüllen, Hühner gackern, Hähne krähen, und die Hunde werden still, die die ganze Nacht durchgebellt haben.

Uma nimmt mich abends mit in die Stadt, die ich früher, bei der Durchfahrt nach Angpang (30 km weiter), gar nicht gesehen habe, weil ich nur am Rand vorbeifuhr. Oben gibt es einen „großen Basar“ und davor einen Tempel und um ihn herum einen kleinen Platz, den jetzt stumme Männer besetzen. Es ist ein Dorfplatz wie in Italien, aber da sind fröhliche Mütter und Kinder unterwegs, Tenager und Männer. In Okhaldhunga sind es nur Männer, die stumm aneinandergereiht vor sich hinschweigen.

100 Meter weiter steht ein ummauerter schwarzer Fels, der einem Mörser ähnelt. Die Legende sagt, dass hier  früher die Könige den Reis mahlten. Er heißt „Okhaldhunga“.
Daneben ist ein neuer Park und drüber der Fitness-Parcours für jedermann. Er steht voll mit nagelneuen Trimm-Geräten wie bei uns für die Senioren. Uma und Laxmi haben aber Probleme, das Radl-Gerät zu treten. Sie bekommen die Pedalen nicht in den Griff.

 

Noch weiter oben bauen Soldaten eine kleines Riesenrad aus Holz, den „rote ping“. Er ist fürs kommende Dashain-Fest gedacht, für die Kinder. In anderen Dördern entsteht dafür eine hohe Bambusschaukel. Hier ist es ein mühsam geschnitztes Vier-Sitz-Rad, das die Väter von der Seite her in Schwung treten.

Noch weiter oben steht eine Stupa, vor der Uma sagt: „So, jetzt singen wir!“ Also Handy raus, Musik an und mitsingen.

Dieses Karaoke-Faible von Uma krieg ich fast durch einen Zufall mit. Denn eines Morgens beschließt sie, Momo zu machen. Momos sind gefüllte Teigtaschen, kunstvoll gebändelt. Raju muss sich über den Teig werfen und kneten bis zum Umfallen. Aus dem Nichts tauchen Shanta (19)  und Ang Diki und Alina (15)  und deren Mutter Anita auf, um beim Bändeln zu helfen. Uma lächelt: „My villagers support me very much.“

Die schmale Shanta düste vorher die Treppen herunter, sah meine offene Zimmertür, bremste und sagte „Hello!“ Sie studiert Ingenieurswesen, hat keine Mutter mehr und lebt bei einem Verwandten, der heuer mühsam die halbe Studiengebühr zusammenbrachte, 200 Euro.

Ang Diki kommt aus einem winzigen Dorf bei Maidane, wo es nicht genug Geld gibt für alle sechs Kinder. Deshalb machte sie nach ihrem Maidane-Schulabschluss fünf Jahre Pause, bis sie jetzt eine Ausbildung für Geschäfts-Management in Okhaldunga anschließt, für den Bachelor. Ob sie danach eine Stelle findet, ist fraglich. Entsprechend still und für sich, fast traurig, sitzt sie im Momo-Kreis.

Alina  hat noch drei Schwestern. Die älteste ist verheiratet, aber für die Ernährung der anderen Töchter muss „Mother Anita“ hart kämpfen. Ihr Mann war Elektriker und starb vor 14 Jahren durch einen Stromschlag. Danach pachtete sie einen Tee-Imbiss, d. h. eine Wellblechhütte gegenüber von Uma´s Haus. Die Pacht kostet 8000 Rupi im Monat, das sind 730 Euro im Jahr – eine für Nepal horrende Summe. Und mit dem Glas Tee kommen nur immer 10 Cent herein. Anita hat noch zwei kleine, einfache Hotelzimmer zu vermieten und geht anderswo putzen. Es ist ein mühseliges Durchboxen.

Jetzt sitzen alle auf der Dachterrasse von Uma im Kreis und lehren mich das Momo-Bändeln. Nebenbei stellt Shanta ihr abgegriffenes Handy auf den Balkonpfosten und daraus erklingt eines der schönen nepalesischen Lieder. Dann filmt sie sich beim Mitsingen. Und Ang Diki macht mit. Dabei geschieht ein Wunder: Als Sängerin ist sie plötzlich ein ganz anderer Mensch. Ein mitreißender, packender Mensch.
Ich tanze aus Jux mit, voll witzigem Zeug, und weiß nicht, dass die Mädchen diese Videos in TikTok stellen. Am nächsten Tag haben einige der 15-Sekunden-Clips schon 12 000 Klicks. Utsab ist begeistert.

Jetzt zückt Uma ihr Handy und zeigt, wie oft sie Karaoke macht: praktisch jeden Tag.  Ihre 15 Sekunden bekommen immer zwischen 400 und 900 Klicks.

 

(diese Minivideos schaffe ich nicht, vom Handy auf den PC zu bekommen. Wer sie einmal sehen will, muss seine Handynummer schicken, dann geht es per What´s App.)

Das Bild zeigt Ang Diki (li) und Alina (re). Laxmi in der Mitte muss noch das Teigbändeln lernen, genau wie ich.

8.

Raju, Uma´s Ehemann, unterrichtet in einer kleinen Schule in Tekanpur. Sie liegt eine halbe Stunde Fußweg bergab. So wunderbar wie im Paradies. Ich sage ihm, dass Münchner Eltern 1000 Euro im Monat bezahlen würden, hätten sie so eine idyllische Schule für ihre Kinder. Es ist wie in Bali: Strahlende Sonne, prachtvolles Grün rundum, Bilderbuch-Reis-Terrassen weit,weit unterhalb.

Aber für Raju und Rektor Sita Ram Dahal ist es eine Problemschule. Weil die 94 Kinder nur bis zur 7. Klasse bleiben können. Denn eine 8. gibt es nicht – wegen Lehrermangel. Bis jetzt sind es vier Lehrer. Alle Rufe an die Regierung nach einem Physik/Chemie-Lehrer verhallen. „Es kommt nicht einmal eine Antwort“, sagt Sita Dahal. Für diesen Lehrer wären 3150 Euro Gehalt im Jahr nötig.
Die vier Lehrer unterrichten immer zwei Klassen gleichzeitig. Sie haben dafür nur neun kleine Zimmer. „Die Kinder bekommen nicht die Ausbildung, die sie brauchen.“

Uma sagt, dass der bescheidene Sita Dahal so ein guter Englischlehrer ist, dass er den Ruf der Schule enorm gehoben hat. Vor seiner Ankunft war sie sogar eine Zeitlang geschlossen. Jetzt kommen die Dorfkinder von weit her, teils mit zwei Stunden Schulweg.

Fünf von ihnen würde Sita Dahal gern von uns unterstützen lassen, weil sie sehr arm sind. Es sind Keshav Magar (kein Vater), Avishek Rai (kein Vater), Sushil B. K. (ohne Eltern), Mahendra Rai (sehr arm, weil der Vater Herzprobleme hat) und Samip Rai (sehr schwache finanzielle Lage).
Die Rai sind eine Volksgruppe, die noch die alte Naturreligion hat: Alles in der Natur ist beseelt. Auch Samrita Rai, die der Hamburger Abiturient Philipp und ich vor vier Jahren als Healthpost-Assistentin im Gesundheitsposten von Maidane kennengelernt hatten, gehört dazu. Sie zeigte damals Bilder eines großen Rai-Festes in Kathmandu, wo sie wunderbar aussah: In einem rotem Sari mit viel Gold im Haar. Heute lebt sie in Singapur. Weil sie heiratete und ihr Mann dort Polizist ist.

Bild:
In der 2. Reihe von oben ist rechts Raju zu sehen, und unter ihm Rektor Sita Ram Dahal, ich und Uma. Die Schule heißt „Shree Gramodaya Basic School Tekanpur“.

So sieht die Schule aus. Utsab machte das Foto auf einem der diversen Handys, die er immer jongliert: Von Mutter, Vater und das Eigene. Es ist ein chinesisches Rembi, hier 80 Euro teuer, bei uns das doppelte. Alle Handy-Shops haben Samsung-Handys ausliegen, etwa 140 Euro teuer – nagelneu, kein China-Nachbau. Nur Apple-Handys gibt es fast nicht, weil extrem teuer.

9.

Uma sagt: „Jetzt besuchen wir mal meine Eltern.“ Sie leben drei Berge weiter, hinter dem größten Berg. Unser Jeepfahrer gibt aber beim ersten Feldweg dorthin auf – unfahrbar. Immer noch zu viel Monsun-Matsch, obwohl der Monsun eigentlich Ende September durch sein sollte. Er probiert die zweite Variante und stoppt dann 100 m oberhalb der Hütte der Eltern: Wenn er weiterfährt, kommt er nicht mehr zurück. Zu wild, zu steil.

Wir laufen runter – in ein grünes Pflanzenparadies. Meterhohe Gewächse. Bananenstauden dabei. Wir sind jetzt da, wo Nepal nicht hinreicht, denke ich. Keine Verwaltung, kein Polizist. Wo man seit Jahrhunderten für sich lebt. „Utsab“, sage ich, „das nächste Mal machen wir hier Camping.“ Um die Vorzeit zu erfahren, vor jeder Zivilisation. „Ok“, sagt er, Isomatten auf die schmale Veranda vor der Hütte, Abenteuer. Weit weg sehen wir die längste Hängebrücke des Distrikts. Dahin krabbeln wir dann auch hoch.

Uma musste von hier 1,5 Stunden einfach zu einer kleinen Busch-Schule laufen. Dort gab es 600 Schüler. In ihrer Klasse waren 45 Kinder.
Sie war die Schulbeste, gefolgt von Raju. Er war drei Klassen drüber. Doch er ging ab der 7. Klasse in eine andere Schule und sie sah ihn nur noch, wenn er in den Ferien heimkam. Dann sammelte er Gras am Hang und sagte „sister“ zu ihr, was schon auf Liebe hindeutete. Dann folgte die arrangierte Ehe. Er war der empfohlene Bräutigam. Aber er musste sieben Mal zu ihr gehen und sie sagte sechs Mal Nein. Erst dann hatte er Glück.

Uma war acht Jahre alt, als ein Erdrutsch kam – vor 31 Jahren. Erst unendlich viel Regen. Dann nachts um Eins ein Grummeln oben am Berg. Der Vater schnappte sich Uma auf den Rücken und rannte raus. Sie ist die jüngste. Die anderen sechs Geschwister und die Mutter rannten auch. Danach war alles weg: Kühe, Ziegen, Hühner, Haus.

Es kam ein Wissenschaftler, Jahre später, und wohnte einen Tag bei ihnen. Er sagte, der Berg ist unsicher. „Schaut den Felsblock an, der auf halber Höhe noch so weit raussteht.“ Seitdem nimmt Uma immer ihre Eltern im Monsun zu sich in die Stadt. Das sind drei Monate im Sommer.
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Vor der Hütte von Uma´s Eltern, 20 m weiter, liegt eine flachgetretene große Plastikflasche. Ich hebe sie beim Rückweg auf. Raju versteht es nicht. Er will sie 10 m weiter in einem Felseck verstecken. Ich protestiere. Utsab sagt: „Ich nehm sie. Ich werf sie später in den Bach.“ „Was?“, sag ich, „Warum?“ Er sagt, die Verwaltung klaubt sie wieder raus.

Daheim erklärt er es besser: Er warf die Flasche genau da aus dem Jeepfenster, wo ein Bach die Straße quert. Denn der Bach ist die Verwaltungsgrenze. Bis dahin gehen die Stadtarbeiter aus Okhaldhunga die Straße entlang und heben den Müll auf.
Es liegt ja viel herum, vor allem hellblaue Plastiktüten mit Erbrochenem. Die segeln aus dem Fenster, wenn es jemandem schlecht wird. Viele Nepalesen sind das Autofahren nicht gewöhnt.

Bild:
So windig, wie sie heute aussieht, war die Schule schon immer. Mehr Blechbaracke als Klassenzimmer.

Diese Kinder sollten wir in Tekanpur unterstützen, sagt Rektor Sita Dahal. Ein Junge – Samip – fehlt, weil er an diesem Tag nicht da ist. Sushil ist 12 Jahre alt, Mahendra 9, Avishek 10 und Keshav 8 Jahre.

10.

Uma´s Vater heißt Ganesh Karki und ihre Mutter Ram Kumari Karki. Er ist 87 Jahre alt und sie 80. Beide hatten keine Schule und lernten nur etwas von den anderen im Dorf. Aber das war nicht groß: nur vier kleine Häuser. Es gab keine Straßen in der Jugend des Vaters, nur Pfade. Die Eltern kamen auch nie weg.

Sie hatten eine arrangierte Ehe, sahen sich vorher nicht und es ging trotzdem gut. Ganesh bekam Land vom Vater, das aber vor 30 Jahren durch einen Erdrutsch zerstört wurde, dann durch ein Erdbeben im Jahr 2015.
Beide haben zwei Söhne und fünf Töchter.

Die Mutter ist das jüngste von sechs Geschwistern und kannte in ihrer Jugend nur Arbeit. Es war sehr, sehr hart. Ihr Traum war eine feste Stelle irgendwo, aber die gab es nicht.

Beide kennen keinen Fernseher oder Computer. Das Radio kam, als sie fast 60 waren. Musiker gibt es auch nicht im Umkreis. Man singt einfach im Wald, wenn man mit den Tieren unterwegs ist.
Die Mutter war nie krank, aber der Vater musste vor zwei Monaten nach Kathmandu ins Krankenhaus wegen Urin-Problemen. Seitdem nimmt er Tabletten.

Beide leben in einer Hütte mit zwei Zimmern. Eins davon dient als Küche, Wohn- und Schlafzimmer, nur 3 x 3 m groß. Ihr Bett ist ein Brett, etwa 1,30 m breit. Einen Ofen gibt es nicht, nur ein kleines Feuer in der Ecke.

Wenn die Mutter einmal sehr reich wäre, würde sie davon den Ärmsten geben. Und für einen Tempelbau spenden und sehr schöne Häuser bauen.
Die Mutter sagt: „Wenn wir den Armen helfen, sieht das Gott und gibt uns im Himmel Frieden.“

Der Vater gibt als Rat an die Jugend: „Wenn wir arbeiten und etwas Eigentum schaffen, hilft das unserer Zukunft.“ Und: „Alte und Junge sollten sich respektieren.“

Beide fühlen sich einsam im paradiesischen Grün um sich herum. Und sie wissen, wie hart ihr Überlebenskampf war. Wie unendlich mühsam, nach dem Erdrutsch wieder kleine Terrassen freizuhacken. Die zerstörte dann das Erdbeben. Ganesh Karki musste wieder von vorn anfangen – mit 78 Jahren.

Bild:
Normalerweise lachen beide immer. Aber beim Fotografieren ging es nicht.

PS: Korrektur: Bei meinem letzten Foto der Kinder in Tekanpur bedeuten alle Zahlen im Bildtext nicht die Schulklasse, sondern ihr Alter.

Shanta (sprich: Santa) schickte das Bild von dem Kalb mit dem Blumenkranz. Es bekam die Tagetes um, weil das Tihar-Fest war. Das Gesicht des Mannes im Hintergrund sagt alles über das harte Leben der Bauern.

Ang Diki (gerufen „Diku“) schickte die Bilder der wandernden Grasbüschel am Straßenrand und von der Ernte von Grünpflanzen mit der gezackten Sichel. Ich war so froh drum, weil es das überwiegende Nepal zeigt, das Land-Nepal. Das städtische Nepal vergisst dieses Land weit oben oder weit im Osten und Westen. Sogar ich im warmen Okhaldhunga (20 Grad im Oktober) fühlte mich wie in Italien und bekam nur eine herbe Rückerinnerung an meine früheren kühlen Aufenthalte in Angpang, 1000 Meter höher, wenn wir in die Gegend fuhren. Nur 30 km weiter. Aber eine andere Welt. Lehmböden, verrußte Einfach-Küchen, kein Laden, kein Obst. Oft Regen. Oft 12 Grad.