Reisebericht 2023

von Thomas Knauber

Es war ein ereignisreicher Oktober, vom Erdbeben-Spüren  bis zum nächtlichen Festsitzen unseres Jeeps in einem ausgefurchten Bergweg, wo Uma, unsere Verteilerin der KvN-Unterstützung in Nepal, fast erfror. Das war am Rückweg von der Schule in Patle.

Uma nahm mich so gut auf. Und sie verbindet jeden Satz mit einem Lachen. Und ist ideal für das Verteilen unserer Kinder-Unterstützung, weil sie eine Lehrerin ist, genauso wie ihr Mann Raju ein Lehrer. Beide verstehen gut die Lage der Kinder und der Lehrer in diesen abgelegenen kleinen Schulen.

Zusätzlich haben sie Utsab als Sohn, einen Wunderjungen. Er ist 17, geht zu allen Spendenübergaben mit, ist mit dem Handy-Kram fit wie nix und genau wie Uma froh, über „Kinder von Nepal“ einmal andere Schulen zu sehen. Und andere Lehrer.

Utsab ist zum Beispiel beeindruckt vom Rektor in Tingla, einem strengen, aber freundlichen Mann: „Er unterstützt KvN extra, weil er als Kind auch von einem ausländischen Verein unterstützt worden ist, bis zu seinem Studium. Ich will einmal so sein wie er,  und genauso viel weitergeben an andere Kinder.“ Für ihn sind Werner und ich Vorbilder. Ich als Vorbild – ich war ganz überrascht. Aber das kommt, weil auch Uma und Utsab erst durch die Spendenfahrten genau mitkriegen, wie viele arme Kinder es gibt. Und wie gut es ist, dass wir in Deutschland einen Verein dafür haben.

 

1.

Die Reise beginnt mit dem ICE von Nürnberg nach Frankfurt: Überfüllter Zug, alles auf dem Boden sitzend überlebt. Der Schaffner hat Mitleid: „Wenn Sie Samstag/Sonntag fahren, müssen Sie immer einen Platz reservieren.“ Aber es gibt eine Regel: Was schlecht anfängt, endet gut.

Im Flughafen merke ich, dass ich das Fliegen nicht mehr beherrsche. Nach drei Jahren Corona – alles vergessen. Wo ich welchen Schildern nachhetzen muss. Dann das Wechselbad zwischen durchgefilztem Hochverdächtigem (Schuhe aus, Gürtel runter) und verwöhntem Gast im Flugzeug – auch überlebt. Es gab drei solcher Kontrollen.

Dann Kathmandu: Das Eintauchen in die verstaubten zerbrochenen Bürgersteige, in die wirr hängenden Stromkabelbündel, in den Verkehr. Eine Stunde im Taxi im Stau bis zum kleinen Hotel „Souvenir Guesthouse“ durchgeruckelt. Um uns Motorräder, Motorroller, Motorräder. Der Taxifahrer fragt nach meinen Kindern, ob sie arbeiten. Seine drei Kinder haben keine Stelle. „Ich bin der einzige, der Geld verdient.“

Unterwegs die Frauen bewundert. Trotz all des Einfachen, trotz der wirren Shops und Häuser sind sie so sauber, schön gekleidet. Und ich fühle mich wie neu, weil ich seit 2019 nicht mehr da war. Erst am zweiten Tag bin ich wieder der gewohnte Kathmandu-man.

Madan und Samjhana Karki leiten das begrünte kleine Hotel am Rand des Touristenviertels Thamel. Sie sind junge Eltern. Der eine ihrer zwei Söhne ist geistig behindert. Samjhana erzählt von ihrem seit drei Jahren geschwollenen Knie so gut wie eine Bio-Öko-Europäerin – alles probiert, alle alternativen Methoden. Madan hat Bluthochdruck wegen Stress. Er muss das Hotel abbezahlen und so viel erwirtschaften, dass das Gehalt der Zimmerfrau hereinkommt.

Beide haben viele holländische Gäste. Manche von ihnen leiten Nepal-Hilfsvereine. Für sie prüfen Samjhana und Madan immer die Zeugnisse von unterstützten Schülern, die in Kathmandu studieren. Sie machen es jetzt auch für uns. „Kein Problem. Wir laden die Schüler zum Tee ein und besprechen ihre Ergebnisse.“ Werner und ich sind froh darüber. Weil wir überlegt haben: Wie kriegen wir eine Kontrolle hin, wenn unsere begabten Dorfkinder hier weiterlernen?

2.

Der Mann von Uma, Raju, kommt dann mit Sohn Utsab extra nach Kathmandu, um mich nach Okhaldhunga zu holen, 225 km im Osten, wo sie wohnen. Für beide ist diese 8-Stunden-Fahrt eine Freude: Sie kommen mal aus den Bergen raus.

Sie haben einen 9-Sitzer-Jeep bestellt, der für 11 Euro jeden mitnimmt. Ich muss um 4.30 Uhr aufstehen und vor der Hoteltür warten. Sehe dort den Müll-Gogerern zu, die mit ihrem Handylicht die Säcke aus den Hotels durchsuchen, bevor sie wie ein schwarzer Mammutberg auf Fahrräder geladen werden und zu Müllplätzen geschoben. Ich höre daneben x-mal aus den kleinen weißen Taxis, die durch die Schlaglöcher rumpeln,  den Satz: „Taxi, Sir?“ und erblicke endlich meinen indischen Allrad-Jeep.

Dessen Fahrer muss noch eine Stunde durch das nächtliche Kathmandu kurven und telefonieren, telefonieren, wo noch ein Gast wartet, wo eine spezielle Adresse ist in den versteckten Gassen. Wo er Post mitnehmen kann.

Dann geht es los. Raus nach Osten, hinauf auf eine hohe Talkante – von wo ich auf die andere Talkante sehen kann, hinter der im reinsten Weiß eine lange Gipfelkette des Himalaya erstrahlt. Es ist das erste Mal, dass ich das sehen kann. Ich denke mir: „Unglaubliches Nepal.“

Stunden später ist dieser Blick zu, voller Dunst. Aber das lange Tal des Sunkoshi-Flusses kommt mit einer Schönheit, die allein den Flug nach Nepal lohnt. Dort treffen sich die Zeiten: Es gibt biblisch altertümliche Dörfer und neue Hotelanlagen mit großem Pool. Es gibt die Allrad-Jeeps mit Rückfahr-Kamera und Mini-Bildschirm am Spiegel und davor die wandernden Grasbüschel am Straßenrand, riesengroß. Wo Frauen und alte Männer mühselig für ihre Tiere gesammelt haben und heimschleppen.

3.

Irgendwann biegt die Straße nach oben ab. Wir durchfahren sonnige Kurven, dann die Wolkenzone mit Regen, danach wieder Sonne. Fern liegt Okhaldhunga da, wie ein kleines Tuch aus Häusern auf einem grünen Bergrücken, oberhalb von tiefen Tälern mit einer Terrassen-Schönheit wie in Bali.

Uma wartet vor ihrem schmalen roten Haus, einem verwitterten Mini-Wolkenkratzer mit 4,5 Stock – und hat schon Pläne, welche Schulen wir besuchen, wo KvN unterstützt. Am Ende habe ich von den Lehrern diese Liste in der Hand:Maidane: Nötig sind zwei Lehrer für die oberen Klassen. Bisher geben alle anderen Lehrer zwei Stunden zusätzlich, weil sie an die Zukunft der Kinder denken. Aber deswegen haben sie keine Pause. Und können nicht schon um 8 Uhr anfangen, erst um 10 Uhr.

Nötig sind 15 Laptops, 10 Whiteboards à 160 Euro, ein Smartboard à 1000 Euro, Bälle für Fußball, Volleyball, Basketball; Badmintonschläger; und Geld für Möbel.

Die Regierung schickt nur immer Lehrer für ein paar Monate. Alle Bitten nach festen Zusatzstellen sind zwecklos.
(Maidane hat 180 Kinder und 15 Lehrer)

Kerung: Es sind zwei Englischlehrer nötig vom Kindergarten bis zur 5. Klasse. Ein Gehalt dafür: 2150 Euro.

Wir unterstützen hier 13 arme Kinder. „Aber es gibt 100 arme Kinder“, sagen die Lehrer vorwurfsvoll.
Die Schüler laufen 1,5 Std einfach her, gefährdet durch Bären. Es gab schon zwei Tote. Am Besten wäre ein Hostel für 35 Kinder = 32 000 Euro.

Die Lehrer brauchen Fortbildung. Der Kursleiter käme nach Kerung = 2100 Euro

(Kerung hat 370 Schüler in 12 Klassen und 16 Lehrer)

Patle: Es sind zwei Lehrer für die 8. bis 12. Klasse nötig, weil nur drei dafür da sind. Die Regierung schickt nur immer Aushilfen für drei Monate, bisher fünf Mal.

Der Spielplatz braucht Geräte.

Der Healthpost, bisher von KvN getragen, wurde von einem anderen Auslandsverein übernommen, vom Adman Hilary Trust.
(Patle hat neun Lehrer für 246 Kinder)

Angpang: Es gibt vier Regierungslehrer; die fünf anderen bezahlen bisher wir. Die Schule versuchte intensiv, mehr Regierungslehrer zu bekommen. Keine Chance, sagt Rudra Magar als Leiter des Schulkommitees. Wenn KvN nicht mehr hilft, warnt er, geht die Schule von 8 auf 5 Klassen herunter. „Sie ist eine kleine Pflanze, von KvN mit gepflanzt, und geht ohne eure Unterstützung ein.“

Wir bezahlten bisher auch den Healthpost-Assistent. Aber das geben wir künftig an die deutsche „Nepalmed“.

(Angpang hat 124 Kinder und 9 Lehrer)

Bagam: Nötig ist ein zusätzlicher Lehrer für die 94 Kinder.

Tekanpur bei Okhaldhunga, wo Raju unterrichtet, der Ehemann von Uma: Es fehlt ein Lehrer für Science ( = 3150 Euro Gehalt im Jahr). Es gibt nur sieben Klassen für die 94 Kinder, weil es nur vier Lehrer sind. Die Regierung beantwortet die Bitten von Rektor Sita Ram Dahal um mehr Lehrer nicht mehr. Die Lehrer müssen je zwei Klassen pro Zimmer unterrichten, weil Räume fehlen.

Es gibt fünf sehr arme Kinder. Hier soll KvN helfen.
Alle Kinder haben weite Schulwege bis zu 1,5 Std.

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Wenn irgendwer irgendwo mit einer Spende helfen kann: Der Einsatz lohnt. Es ist eine Hilfe in der rauen Bergwelt, die etwas bewirkt.

4.

Uma ist enorm. Ich bekam einen wunderbaren kleinen Konditorkuchen als Willkommen. Und hatte viel Schokolade als Geschenk dabei – sehr geschätzt. Utsab verteilte seinen Riesenblock an alle Freunde.
Uma lacht nach jedem Satz. Sie nimmt die Schulkinder immer in den Arm oder an die Hand und spricht ermutigend mit ihnen. Trifft sie Ex-Schülerinnen auf der Straße, umarmt sie diese. Bei der scharfen Diskussion in Maidane mit den verärgerten Lehrern (wegen Kul´s Verhalten) ist ihr Lächeln eine gesamte Beruhigung. Sie darf auch nicht weg aus dem Kollegium, sagt sie. Ihr Rektor gibt keine Zustimmung. Obwohl die Schulen in Tingla und Okhaldhunga sie haben  wollen. Sie will den brutal langen Weg von Okhaldhunga nach Maidane nicht mehr 2 x die Woche  – am Freitagabend heim, am Sonntag früh die 27 Kilometer in endlosen Kurven zurück.  Jetzt machte sie extra eine Zusatzausbildung, damit sie wegkommt.

Und Uma ist wie viele Nepalesen: Super beim Telefonieren. Egal welches Problem – zack! Handy raus. Und sie kocht mit einer Leichtigkeit, mit ihrem Lächeln. Aber ihr Mann Raju ist ein bissl frustriert, weil unterbuttert. Er sagt: „Uma kann alles. Uma weiß alles.“

5.

Uma ist so herzlich. Hab ich also eine gute Zeit da oben im vierten Stock, im Himmelreich. Ihr Sohn Utsab ist 17 und top. Geht auch mit der Oma, 87 (und kerngesund), so gut um. Er sagt ihr laut vor und kippt ihr Öl in einen Becher – weil die alten Leute drauf schwören. Alles am Körper muss in Öl gerieben werden. Manchmal meckert sie, sagt er, aber nur, wenn sie an ihren Mann denkt. Er war ein Diktator. Dann kontert sie ihn.

Ich bekam bei Uma auch erstmals mit, dass einige von unseren Paten viele Familienbilder von Deutschland zu den Kindern oder Uma schicken. Sie freuen sich drüber. Denn sie sehen mal den Enkel von jemandem im Wohnzimmer spielen oder eine Reise nach Italien oder eine Geburtstagsfeier. Dieser Kontakt muss nicht einmal in Englisch sein, weil die Kinder das Google-Übersetzungsprogramm draufklicken und sofort alles in Nepali haben.

Uma´s Mann Raju unterrichtete 17 Jahre lang von Maidane aus in einem Dorf abseits. Dafür lief er 1,5 Stunden hin und genauso viel zurück. Und er lief als Jugendlicher zweimal nach Kathmandu. Beladen mit Salz und Kerosin. Drei Tage gebraucht für die 225 Kilometer.

Der Name „Uma“ kommt übrigens von der Ehefrau des Super-Gottes Shiva, die auch als Parvati bekannt ist – die Göttin der Liebe und Harmonie. „Utsab“ heißt Festival, Feier, Freude. Und „Raju“ kommt aus dem Indischen: der Prinz, der König.

Uma und Raju lebten lange in einem kleinen Raum in Maidane, gleich bei der Schule, wo auch Utsab geboren wurde. Erst spät wagten sie, Land zu kaufen – in Okhaldhunga, wo gute Schulen sind. Diese kleine Fläche bebauten sie. Unten ist jetzt an drei Parteien vermietet. Aber diese Einnahmen reichen gerade, sagt Raju, um die Kosten von Wasser und Strom zu bezahlen. Er und Uma müssen jeden Monat viel an ihre Bank abgeben, allein um die Zinslast  für ihren Kredit zu senken. Ihre große Hoffnung ist, dass Utsab einmal im Ausland viel Geld verdient und das Haus abbezahlt. 30 000 Euro sind noch offen.
Die Banken nehmen bis zu 32 Prozent für einen Kredit. Das war auch vor Jahren der Grund für Kul, in Angpang eine Dorfbank zu gründen, die mit 16 Prozent arbeitet.

6.

Uma nahm vor 20 Jahren einen verwandten Jungen auf, der heute Englischlehrer ist und inzwischen überqualifiziert für seinen Job in einer Dorfschule. Aber er kommt nicht weg davon – die Regierung bietet ihm keine Anstellung an einer Universität. Also kann sich dieser Suman, ein sehr herzlicher, sehr schnell sprechender Mann (28), in die Kolonne jener Nepalesen einreihen, die das Land verlasssen und in Korea, Singapur, Malaysia, Norwegen, USA oder Kanada nach Chancen suchen. Täglich fliegen über 400 Nepalesen weg in ein neues Leben. Im Radio läuft ein Lied dazu: „Wo ist meine Heimat? Ich hab Sehnsucht nach meiner Heimat, wenn ich da draußen bin…“

Uma nahm vor acht Wochen auch eine Schülerin auf, Laxmi, 17 Jahre alt. Ihre Mutter starb vor vier Jahren durch einen Erdrutsch. Der Vater blieb mit den fünf Töchtern zurück. Aber weil er kein Land hat, muss er bei anderen Bauern als Hilfsarbeiter anfragen. Er kann seine Kinder nicht ernähren. Deshalb erkundigte er sich überall, wo die Mädchen unterkommen können – in den Dörfern gibt es keine Kinderheime.

Laxmi – ihr Name kommt von der Göttin für Reichtum, Aufblühen und Erfolg – ist schmal und scheu. Aber wenn sie lacht, geht die Sonne auf. Es wird licht im Zimmer. Utsab liebt sie – endlich eine Schwester. Und sie liebt die Familie – vor allem Uma.

7.

Raju und Uma bauten ihr Haus nach und nach. Erst nach zwei Jahren kam der dritte Stock und nach einem Jahr Pause der vierte. Unregelmäßigkeiten bei der Gehaltszahlung von Uma an der Schule in Maidane verursachten damals große Schwierigkeiten. Auch Kolleg-innen ging es so. Uma schildert deren existentiellen Probleme, weil die deutsche Schul-Unterstützung nicht funktionierte bzw. Kul als Koordinator. Inzwischen ist alles besser, sagt sie. Ein neuer Rektor und neue Kollegen machen endlich einen Strich drunter.

Ich schlafe in ihrem Haus unter dem Badezimmer, das ein hervorstechendes Merkmal hat: einen kleinen Korb mit ca 80 Zahnbürsten, alle schief gerubbelt – deshalb haben die Nepalesen so weiße Zähne.
Wenn ich aufwache, höre ich Ochsen brüllen, Hühner gackern, Hähne krähen, und die Hunde werden still, die die ganze Nacht durchgebellt haben.

Uma nimmt mich abends mit in die Stadt, die ich früher, bei der Durchfahrt nach Angpang (30 km weiter), gar nicht gesehen habe, weil ich nur am Rand vorbeifuhr. Oben gibt es einen „großen Basar“ und davor einen Tempel und um ihn herum einen kleinen Platz, den jetzt stumme Männer besetzen. Es ist ein Dorfplatz wie in Italien, aber da sind fröhliche Mütter und Kinder unterwegs, Tenager und Männer. In Okhaldhunga sind es nur Männer, die stumm aneinandergereiht vor sich hinschweigen.

100 Meter weiter steht ein ummauerter schwarzer Fels, der einem Mörser ähnelt. Die Legende sagt, dass hier  früher die Könige den Reis mahlten. Er heißt „Okhaldhunga“.
Daneben ist ein neuer Park und drüber der Fitness-Parcours für jedermann. Er steht voll mit nagelneuen Trimm-Geräten wie bei uns für die Senioren. Uma und Laxmi haben aber Probleme, das Radl-Gerät zu treten. Sie bekommen die Pedalen nicht in den Griff.

 

Noch weiter oben bauen Soldaten eine kleines Riesenrad aus Holz, den „rote ping“. Er ist fürs kommende Dashain-Fest gedacht, für die Kinder. In anderen Dördern entsteht dafür eine hohe Bambusschaukel. Hier ist es ein mühsam geschnitztes Vier-Sitz-Rad, das die Väter von der Seite her in Schwung treten.

Noch weiter oben steht eine Stupa, vor der Uma sagt: „So, jetzt singen wir!“ Also Handy raus, Musik an und mitsingen.

Dieses Karaoke-Faible von Uma krieg ich fast durch einen Zufall mit. Denn eines Morgens beschließt sie, Momo zu machen. Momos sind gefüllte Teigtaschen, kunstvoll gebändelt. Raju muss sich über den Teig werfen und kneten bis zum Umfallen. Aus dem Nichts tauchen Shanta (19)  und Ang Diki und Alina (15)  und deren Mutter Anita auf, um beim Bändeln zu helfen. Uma lächelt: „My villagers support me very much.“

Die schmale Shanta düste vorher die Treppen herunter, sah meine offene Zimmertür, bremste und sagte „Hello!“ Sie studiert Ingenieurswesen, hat keine Mutter mehr und lebt bei einem Verwandten, der heuer mühsam die halbe Studiengebühr zusammenbrachte, 200 Euro.

Ang Diki kommt aus einem winzigen Dorf bei Maidane, wo es nicht genug Geld gibt für alle sechs Kinder. Deshalb machte sie nach ihrem Maidane-Schulabschluss fünf Jahre Pause, bis sie jetzt eine Ausbildung für Geschäfts-Management in Okhaldunga anschließt, für den Bachelor. Ob sie danach eine Stelle findet, ist fraglich. Entsprechend still und für sich, fast traurig, sitzt sie im Momo-Kreis.

Alina  hat noch drei Schwestern. Die älteste ist verheiratet, aber für die Ernährung der anderen Töchter muss „Mother Anita“ hart kämpfen. Ihr Mann war Elektriker und starb vor 14 Jahren durch einen Stromschlag. Danach pachtete sie einen Tee-Imbiss, d. h. eine Wellblechhütte gegenüber von Uma´s Haus. Die Pacht kostet 8000 Rupi im Monat, das sind 730 Euro im Jahr – eine für Nepal horrende Summe. Und mit dem Glas Tee kommen nur immer 10 Cent herein. Anita hat noch zwei kleine, einfache Hotelzimmer zu vermieten und geht anderswo putzen. Es ist ein mühseliges Durchboxen.

Jetzt sitzen alle auf der Dachterrasse von Uma im Kreis und lehren mich das Momo-Bändeln. Nebenbei stellt Shanta ihr abgegriffenes Handy auf den Balkonpfosten und daraus erklingt eines der schönen nepalesischen Lieder. Dann filmt sie sich beim Mitsingen. Und Ang Diki macht mit. Dabei geschieht ein Wunder: Als Sängerin ist sie plötzlich ein ganz anderer Mensch. Ein mitreißender, packender Mensch.
Ich tanze aus Jux mit, voll witzigem Zeug, und weiß nicht, dass die Mädchen diese Videos in TikTok stellen. Am nächsten Tag haben einige der 15-Sekunden-Clips schon 12 000 Klicks. Utsab ist begeistert.

Jetzt zückt Uma ihr Handy und zeigt, wie oft sie Karaoke macht: praktisch jeden Tag.  Ihre 15 Sekunden bekommen immer zwischen 400 und 900 Klicks.

 

(diese Minivideos schaffe ich nicht, vom Handy auf den PC zu bekommen. Wer sie einmal sehen will, muss seine Handynummer schicken, dann geht es per What´s App.)

Das Bild zeigt Ang Diki (li) und Alina (re). Laxmi in der Mitte muss noch das Teigbändeln lernen, genau wie ich.

8.

Raju, Uma´s Ehemann, unterrichtet in einer kleinen Schule in Tekanpur. Sie liegt eine halbe Stunde Fußweg bergab. So wunderbar wie im Paradies. Ich sage ihm, dass Münchner Eltern 1000 Euro im Monat bezahlen würden, hätten sie so eine idyllische Schule für ihre Kinder. Es ist wie in Bali: Strahlende Sonne, prachtvolles Grün rundum, Bilderbuch-Reis-Terrassen weit,weit unterhalb.

Aber für Raju und Rektor Sita Ram Dahal ist es eine Problemschule. Weil die 94 Kinder nur bis zur 7. Klasse bleiben können. Denn eine 8. gibt es nicht – wegen Lehrermangel. Bis jetzt sind es vier Lehrer. Alle Rufe an die Regierung nach einem Physik/Chemie-Lehrer verhallen. „Es kommt nicht einmal eine Antwort“, sagt Sita Dahal. Für diesen Lehrer wären 3150 Euro Gehalt im Jahr nötig.
Die vier Lehrer unterrichten immer zwei Klassen gleichzeitig. Sie haben dafür nur neun kleine Zimmer. „Die Kinder bekommen nicht die Ausbildung, die sie brauchen.“

Uma sagt, dass der bescheidene Sita Dahal so ein guter Englischlehrer ist, dass er den Ruf der Schule enorm gehoben hat. Vor seiner Ankunft war sie sogar eine Zeitlang geschlossen. Jetzt kommen die Dorfkinder von weit her, teils mit zwei Stunden Schulweg.

Fünf von ihnen würde Sita Dahal gern von uns unterstützen lassen, weil sie sehr arm sind. Es sind Keshav Magar (kein Vater), Avishek Rai (kein Vater), Sushil B. K. (ohne Eltern), Mahendra Rai (sehr arm, weil der Vater Herzprobleme hat) und Samip Rai (sehr schwache finanzielle Lage).
Die Rai sind eine Volksgruppe, die noch die alte Naturreligion hat: Alles in der Natur ist beseelt. Auch Samrita Rai, die der Hamburger Abiturient Philipp und ich vor vier Jahren als Healthpost-Assistentin im Gesundheitsposten von Maidane kennengelernt hatten, gehört dazu. Sie zeigte damals Bilder eines großen Rai-Festes in Kathmandu, wo sie wunderbar aussah: In einem rotem Sari mit viel Gold im Haar. Heute lebt sie in Singapur. Weil sie heiratete und ihr Mann dort Polizist ist.

Bild:
In der 2. Reihe von oben ist rechts Raju zu sehen, und unter ihm Rektor Sita Ram Dahal, ich und Uma. Die Schule heißt „Shree Gramodaya Basic School Tekanpur“.

So sieht die Schule aus. Utsab machte das Foto auf einem der diversen Handys, die er immer jongliert: Von Mutter, Vater und das Eigene. Es ist ein chinesisches Rembi, hier 80 Euro teuer, bei uns das doppelte. Alle Handy-Shops haben Samsung-Handys ausliegen, etwa 140 Euro teuer – nagelneu, kein China-Nachbau. Nur Apple-Handys gibt es fast nicht, weil extrem teuer.

9.

Uma sagt: „Jetzt besuchen wir mal meine Eltern.“ Sie leben drei Berge weiter, hinter dem größten Berg. Unser Jeepfahrer gibt aber beim ersten Feldweg dorthin auf – unfahrbar. Immer noch zu viel Monsun-Matsch, obwohl der Monsun eigentlich Ende September durch sein sollte. Er probiert die zweite Variante und stoppt dann 100 m oberhalb der Hütte der Eltern: Wenn er weiterfährt, kommt er nicht mehr zurück. Zu wild, zu steil.

Wir laufen runter – in ein grünes Pflanzenparadies. Meterhohe Gewächse. Bananenstauden dabei. Wir sind jetzt da, wo Nepal nicht hinreicht, denke ich. Keine Verwaltung, kein Polizist. Wo man seit Jahrhunderten für sich lebt. „Utsab“, sage ich, „das nächste Mal machen wir hier Camping.“ Um die Vorzeit zu erfahren, vor jeder Zivilisation. „Ok“, sagt er, Isomatten auf die schmale Veranda vor der Hütte, Abenteuer. Weit weg sehen wir die längste Hängebrücke des Distrikts. Dahin krabbeln wir dann auch hoch.

Uma musste von hier 1,5 Stunden einfach zu einer kleinen Busch-Schule laufen. Dort gab es 600 Schüler. In ihrer Klasse waren 45 Kinder.
Sie war die Schulbeste, gefolgt von Raju. Er war drei Klassen drüber. Doch er ging ab der 7. Klasse in eine andere Schule und sie sah ihn nur noch, wenn er in den Ferien heimkam. Dann sammelte er Gras am Hang und sagte „sister“ zu ihr, was schon auf Liebe hindeutete. Dann folgte die arrangierte Ehe. Er war der empfohlene Bräutigam. Aber er musste sieben Mal zu ihr gehen und sie sagte sechs Mal Nein. Erst dann hatte er Glück.

Uma war acht Jahre alt, als ein Erdrutsch kam – vor 31 Jahren. Erst unendlich viel Regen. Dann nachts um Eins ein Grummeln oben am Berg. Der Vater schnappte sich Uma auf den Rücken und rannte raus. Sie ist die jüngste. Die anderen sechs Geschwister und die Mutter rannten auch. Danach war alles weg: Kühe, Ziegen, Hühner, Haus.

Es kam ein Wissenschaftler, Jahre später, und wohnte einen Tag bei ihnen. Er sagte, der Berg ist unsicher. „Schaut den Felsblock an, der auf halber Höhe noch so weit raussteht.“ Seitdem nimmt Uma immer ihre Eltern im Monsun zu sich in die Stadt. Das sind drei Monate im Sommer.
——-
Vor der Hütte von Uma´s Eltern, 20 m weiter, liegt eine flachgetretene große Plastikflasche. Ich hebe sie beim Rückweg auf. Raju versteht es nicht. Er will sie 10 m weiter in einem Felseck verstecken. Ich protestiere. Utsab sagt: „Ich nehm sie. Ich werf sie später in den Bach.“ „Was?“, sag ich, „Warum?“ Er sagt, die Verwaltung klaubt sie wieder raus.

Daheim erklärt er es besser: Er warf die Flasche genau da aus dem Jeepfenster, wo ein Bach die Straße quert. Denn der Bach ist die Verwaltungsgrenze. Bis dahin gehen die Stadtarbeiter aus Okhaldhunga die Straße entlang und heben den Müll auf.
Es liegt ja viel herum, vor allem hellblaue Plastiktüten mit Erbrochenem. Die segeln aus dem Fenster, wenn es jemandem schlecht wird. Viele Nepalesen sind das Autofahren nicht gewöhnt.

Bild:
So windig, wie sie heute aussieht, war die Schule schon immer. Mehr Blechbaracke als Klassenzimmer.

Diese Kinder sollten wir in Tekanpur unterstützen, sagt Rektor Sita Dahal. Ein Junge – Samip – fehlt, weil er an diesem Tag nicht da ist. Sushil ist 12 Jahre alt, Mahendra 9, Avishek 10 und Keshav 8 Jahre.

10.

Uma´s Vater heißt Ganesh Karki und ihre Mutter Ram Kumari Karki. Er ist 87 Jahre alt und sie 80. Beide hatten keine Schule und lernten nur etwas von den anderen im Dorf. Aber das war nicht groß: nur vier kleine Häuser. Es gab keine Straßen in der Jugend des Vaters, nur Pfade. Die Eltern kamen auch nie weg.

Sie hatten eine arrangierte Ehe, sahen sich vorher nicht und es ging trotzdem gut. Ganesh bekam Land vom Vater, das aber vor 30 Jahren durch einen Erdrutsch zerstört wurde, dann durch ein Erdbeben im Jahr 2015.
Beide haben zwei Söhne und fünf Töchter.

Die Mutter ist das jüngste von sechs Geschwistern und kannte in ihrer Jugend nur Arbeit. Es war sehr, sehr hart. Ihr Traum war eine feste Stelle irgendwo, aber die gab es nicht.

Beide kennen keinen Fernseher oder Computer. Das Radio kam, als sie fast 60 waren. Musiker gibt es auch nicht im Umkreis. Man singt einfach im Wald, wenn man mit den Tieren unterwegs ist.
Die Mutter war nie krank, aber der Vater musste vor zwei Monaten nach Kathmandu ins Krankenhaus wegen Urin-Problemen. Seitdem nimmt er Tabletten.

Beide leben in einer Hütte mit zwei Zimmern. Eins davon dient als Küche, Wohn- und Schlafzimmer, nur 3 x 3 m groß. Ihr Bett ist ein Brett, etwa 1,30 m breit. Einen Ofen gibt es nicht, nur ein kleines Feuer in der Ecke.

Wenn die Mutter einmal sehr reich wäre, würde sie davon den Ärmsten geben. Und für einen Tempelbau spenden und sehr schöne Häuser bauen.
Die Mutter sagt: „Wenn wir den Armen helfen, sieht das Gott und gibt uns im Himmel Frieden.“

Der Vater gibt als Rat an die Jugend: „Wenn wir arbeiten und etwas Eigentum schaffen, hilft das unserer Zukunft.“ Und: „Alte und Junge sollten sich respektieren.“

Beide fühlen sich einsam im paradiesischen Grün um sich herum. Und sie wissen, wie hart ihr Überlebenskampf war. Wie unendlich mühsam, nach dem Erdrutsch wieder kleine Terrassen freizuhacken. Die zerstörte dann das Erdbeben. Ganesh Karki musste wieder von vorn anfangen – mit 78 Jahren.

Bild:
Normalerweise lachen beide immer. Aber beim Fotografieren ging es nicht.

PS: Korrektur: Bei meinem letzten Foto der Kinder in Tekanpur bedeuten alle Zahlen im Bildtext nicht die Schulklasse, sondern ihr Alter.

Shanta (sprich: Santa) schickte das Bild von dem Kalb mit dem Blumenkranz. Es bekam die Tagetes um, weil das Tihar-Fest war. Das Gesicht des Mannes im Hintergrund sagt alles über das harte Leben der Bauern.

Ang Diki (gerufen „Diku“) schickte die Bilder der wandernden Grasbüschel am Straßenrand und von der Ernte von Grünpflanzen mit der gezackten Sichel. Ich war so froh drum, weil es das überwiegende Nepal zeigt, das Land-Nepal. Das städtische Nepal vergisst dieses Land weit oben oder weit im Osten und Westen. Sogar ich im warmen Okhaldhunga (20 Grad im Oktober) fühlte mich wie in Italien und bekam nur eine herbe Rückerinnerung an meine früheren kühlen Aufenthalte in Angpang, 1000 Meter höher, wenn wir in die Gegend fuhren. Nur 30 km weiter. Aber eine andere Welt. Lehmböden, verrußte Einfach-Küchen, kein Laden, kein Obst. Oft Regen. Oft 12 Grad.

11.

Umas Sohn Utsab ist 17 und manchmal 19 und manchmal 14. Er steht da wie eine Feder, leicht gebogen, sportlich vom vielen Volleyball. Und er ist so herzlich und lacht viel und übersetzt alles. Wenn er nach Zu-viel-übersetzen ein bisschen müde ist, zieht er sich zurück und verträumt.

Als ich in Okhladhunga bin, kommt einmal eine Nachricht von Werner aus Potsdam auf sein Handy. Sofort ruft Utsab per Bildtelefon zurück und sagt ihm, was er auch mir vorhin gesagt hat: Dass es an der großen Schule in Tingla einen superstrengen Rektor gibt, sehr freundlich, der von einem ausländischen Verein bis zur Universität unterstützt wurde. Das vergisst er nie. Und darum hilft dieser Mann jetzt auch unserem Verein. Utsab: „Er hat alle Lehrer zusammengerufen und in 30 Minuten waren zehn arme Schüler für KvN bestimmt. An einer anderen Schule würden die Lehrer dafür stundenlang zusammensitzen. Aber er hat danach alle weggescheucht. Sie mussten gehen.“

Utsab erinnert sich, dass ihm Christine Wilhelmi (die Hamburger Gründerin der Schule in Maidane) eine Jacke kaufte, als er fünf war. Und Holger von ihrem Hamburger Nepalverein KiO schenkte ihm ein Stofftier, das er heute noch hat.

Utsab: „Ich werde genau wie der Rektor von Tingla. Ich gehe nach Europa und arbeite und denke an die armen Kinder. Ich hab hier so viele arme Kinder gesehen. Ich geb ihnen mehr als die Hälfte von meinem Geld.“

 

——

Maidane

Heute Morgen muss ich um 6 Uhr aufstehen, um die steile, gefürchtete Piste nach Patle (eigentlich Patale) zu schaffen, zu einer kleinen Schule auf einem windumwehten Berg. Aber Uma telefoniert noch einmal mit Rektor Lakpa dort oben und er warnt: Es war Regen in der Nacht und alles ist Schlamm. Also fahren wir um 11 Uhr ersatzweise nach Maidane. Ein immer lachender junger Mann sitzt am Steuer, Tschembe Sherpa. Es geht rapide in Kehren hoch. Ausblick null wegen Nebels. Aber super hoch, 1000 m mehr.

Oben kommt das berühmte Dorf  Thade, wo ich bei meinem ersten Nepalbesuch nur nass-schwarze Häuser gesehen hatte, alles in Regen und Nebel. Ich dachte damals, da würde ich nie wohnen wollen. Und prompt träumte ich von einem alten Mann, den wir vorher getroffen hatten. Er sagte: „Ihr habt es gut. Ihr habt Vergnügen und Kino. Wir haben nur Schwernis.“

Es geht weiter, abbiegen nach Maidane. Vor vier Jahren rumpelte ich hier auch entlang, mit Kalu und Kul und Philipp im Jeep, auf einem total matschigen Feldweg. Der Jeep steckte irgendwann fest, der braune Schlamm stand bis zur Oberkante Reifen. Kul ruderte von hinten aus dem Fenster in die Matsche, um ein bisschen zu schieben. Es half – ein Wunder.

Und das größte Wunder: Die Zahnbürste des Fahrers, die er frühmorgens in die Regenrinne des Jeeps gelegt hatte,  lag immer noch da.

Diesmal noch mehr Wunder: Die erste Hälfte des Wegs nach Maidane ist super breit ausgebaut. Das kann nur jemand würdigen, der weiß, wie mühselig ein Straßenbau in Nepal ist. Es ist ein Zeichen, dass dieses kleine Maidane, das Lehrerin Christine Wilhelmi in den neunziger Jahren aus einem Tundra-Hang hochzog, so wichtig geworden ist, dass es eine Straße verdient.

Aber dann, nach 4 km, wieder Matschpiste. Hab ich gefilmt. In Erinnerung an Philipp, der damals auch ein Video drehte. Denkwürdig. Nur Schaukeln. Wir flogen hin und her im Jeep. – Mir knallt jetzt das Handy an den Kopf, so wackelt es. Aber wir kommen an.

Irgendwann sagt Uma: „Maidane!“ Ich hätte es nicht erkannt. Auch die Schule ist verändert. Ein 2019 begonnener Zusatzbau ist fertig, wo wir damals noch um Geld für mehr Baumaterial gebeten worden waren. Darin sitzen wir jetzt, mit allen Lehrern, und es geht hart her, weil die deutsche Unterstützung lange so problematisch war. Kul hat da Mitschuld.

Zusätzlich erlebte der Healthpost (Gesundheitsstation) einen erzwungenen Umzug und fürchtet nochmal einen Eingriff, von Kul. Aber ich schreibe sofort an Nepalmed, den deutschen Träger, und es wird geregelt.

Der Health-Assistant Manoj Magar zeigt uns das dicht beschriebene Patientenbuch. Es zeigt, wie wichtig die Station ist. Sie hat auch einen Zahnarztstuhl.  Srijana Magar ist hierfür die Fachfrau. Beide sind sehr bescheidene, sympathische Menschen.

Dieser Zahnarztstuhl wurde einst von Pegnitz nach Maidane gebracht, über Kalkutta. Die Geschichte dazu hat in den Annalen von „Kinder von Okhaldhunga“ einen besonderen Platz, so kompliziert war der Zollkram.

 

Manoj zeigt uns auch, wie viele Patienten die Station hat. Kinder werden umsonst behandelt, andere bezahlen geringe Sätze. Wir denken hier immer: Im Himalaya leben nur gesunde Leute. Aber ich sah mal einen Expeditionsfilm, wo die Bergsteiger überrannt wurden von hilfesuchenden Kranken.

Rektor Indra Bahadur Magar lädt uns zum Essen in sein Haus ein, das ganz „Bergdorf“ ist – Lehmboden, dunkel, offenes Feuer. Nix von der Moderne in Uma´s Haus. Aber gemütlich ländlich. Die Frau des Rektors ist eine fröhliche, ganz modern wirkende Frau, schmal und herzlich.

Danach erzähle ich in den Klassen ein bissl von Deutschland, wobei mir nach und nach der Stoff ausgeht. Ich mach es immer realistisch: Wie schnell unser Gehalt weg ist bei all den Ausgaben; wie arme Leute leben; wie die Entwicklung nach dem Krieg ist; welche Flüchtlinge zu uns kommen; was der Nachteil von zu viel Technik ist. Die Kinder freuen sich drüber. Wunderbar sind die kleinsten: so wuselig, wendig und lachend. Wie Quecksilber auf einen Schwung.

Ihr Schulzimmer ist aber ein herber Schock. Sie sitzen nämlich fast im Dunkeln. Es gibt neben der Tür nur ein kleines Fenster, und die Wand besteht aus unverputzten Steinen. Ich sage zu Rektor Indra, dass ich da mal weiß streichen würde, für mehr Lichtreflektion. Und alle Türen in allen Zimmern bunt anmalen, damit Freude in die Umgebung kommt. Ich würde auch im Beton-Neubau die Eisentüren mit Filzstreifen zum Schweigen bringen, weil sie immer so laut knallen.

Und, sage ich, ich würde als Lehrer mal Party feiern. Man kann doch nicht – Maidane hat 15 Lehrer – so abgeschieden hocken, die ganze Woche durch, all die Monate, und es ist nichts los?  Bissl Musik und Tanzen. Prompt kommt später eine Mail: Die Lehrer in Maidane feierten eine Party.

Rektor Indra gibt uns viele Wünsche mit: Zwei Lehrer bezahlen, 15 Laptops für die Lehrer, Whiteboards kaufen und ein Smartboard, Sportbälle schicken. Wobei die Bälle das geringste sind, weil sie in Okhaldhunga billig zu haben sind.

Auf dem Rückweg nehmen wir eine Lehrerin und einen Lehrer mit. Sie wohnen in Dörfern am Weg, 45 Minuten zu Fuß entfernt. Beide freuen sich, mich getroffen zu haben. Ein bisschen Kontakt in die Welt. Ich probiere jetzt, mit ihnen zu mailen. Auch Lehrer Puspa Kafte hat mich vorher inständig gebeten, ihm zu mailen. Er erinnert mich daran: „Vor vier Jahren warst du mit Philipp da. Mit Sarmita, der HP-Assistentin, seid ihr am Abend in unser Lehrerwohnhaus gekommen…“

Uma erzählt beim Rückweg, wie sie einmal zu Fuß von Thade nach Maidane lief, mit einer anderen Lehrerin. Es ist ein abkürzender Pfad. Sie sahen plötzlich einen schwarzen Hund dastehen. Uma erkannte mit Grauen, dass er zu lange Haare hatte für einen Hund. Es war ein Bär. „Er schwenkte irgendwas in seinem Maul hin und her. Wir hatten solche Angst! Wir sind gerannt.“

 

12.

Die  Mutter von Raju heißt Som Kumari Baniya und ist topgesund, 87 Jahre alt. Sie stammt aus Okhaldhunga und war das zweite von sechs Kindern.

Als sie sechs Jahre alt war, starb ihre Mutter. Der Vater kümmerte sich nicht viel und gab sie zur Oma. Dann kam eine Stiefmutter, die selbst fünf Kinder hatte.

Es gab null Schule und Som Kumari kann bis heute nicht schreiben. Dafür musste sie extrem viel auf dem Feld helfen.

Als sie 17 Jahre alt war, wurde eine Ehe arrangiert. Der vorgesehene Junge war 19. Diese Ehe lief einigermaßen gut, nur wurde der Mann später ein Diktator. Noch heute denkt sie oft an ihn – er ist schon tot – und redet dann laut und wütend mit ihm.

Er war in der Verwaltung der Regierung tätig, was in Nepal das Beste ist, was man erwischen kann.

Sie hatten sechs Kinder. Raju ist der jüngste. Sie hielten Kühe und Hühner, konnten ein Haus bauen und kamen immerhin einmal nach Halesi, zum berühmten Höhlentempel weit entfernt. Sie gingen zu Fuß dorthin, d .h. senkrecht den Berg runter und hinter dem Fluss wieder steil hoch.

Als Som´s Ehemann krank wurde, mussten ihre Kinder das Haus verkaufen, um die Behandlung zu bezahlen.

Som Kumari empfiehlt heute der Jugend, immer gesund zu essen, Tag für Tag etwas Training durch Arbeit zu haben, aber keinen Arbeitsdruck. Ihr Rat an die Kinder ist außerdem: „Arbeit ist hart, das Leben ist hart, aber trotzdem soll man glücklich sein. Dann fühlt man sich jung und sieht jung aus.“

 

Ich fotografierte noch ihr schlichtes Zimmer in Uma´s Haus, wo sie praktisch nichts hat außer einem Bett und einer Kommode. Kein Fenster. Um es meiner Mutter zu zeigen. Die immer jammert: Sie lebt in einem „dunklen Loch“, Katastrophe… Dabei hat sie ein super-dooper-Luxus-Appartement, modernste Architektur, Heizung per Knopfdruck, große Fenster, Balkon, volles Licht.

13.

Heute Morgen sollten wir zur Schule in Patle hochfahren, auf einer wilden Piste in die Wolken. Aber es ist kein Jeep frei. Alle 24 Jeeps der Stadt sind nach Salleri zu einem Touristen-Event geholt worden, 56 km weiter. Uma sitzt am Küchentisch und lässt ihr Handy sinken. Alles ist abtelefoniert. Sie ist so enttäuscht. Aber dann richtet sie sich auf und versucht ein Lächeln: „Ich finde einen Jeep.“ Sie telefoniert noch einmal – zum Gemüsehändler. Es klappt.

Es ist zu spät für Patle, aber noch Zeit für Kerung. Es liegt oberhalb von Angpang, von dort zu Fuß in 45 Minuten zu erreichen. In Kerung gibt es einen bedeutenden buddhistischen Tempel mit einem kleinen Kloster. Einmal im Jahr kommen hier die Mönche aus der ganzen Gegend zusammen. Auf dem weiten Platz davor steht am Rand die Schule. Sie sollte einmal hangabwärts gebaut werden, mitten ins Dorf. Aber kein Bauer wollte seine Terrassen opfern.

 

Lo-lo!

Unser Fahrer ist ein sympathischer Mann, ungefähr 45. Beim Rausfahren aus Okhaldhunga grüßt er jeden, immer ein bisschen aus dem Fenster hängend. Auch beim Tanken spricht er mit einem jungen Mann. „Lo; lo-lo-lo-lo…“, sagt er dabei ab und zu. Utsab lacht sich schief, als ich ihn später frage, was das heißt. Eigentlich nix, sagt er, es ist bloß eine Bestätigung, so wie bei uns das „genau…“.

Und, sagt Utsab, dieser Mann ist eigentlich ein christlicher Priester. Er kommt aus Bhaktapur, aus der alten Königstadt bei Kathmandu. Und ist ein guter Mann. Er ist ruhig, macht keine schlechten Sachen – jeder schätzt ihn.

Utsab fährt ein paar Wochen später nochmal mit ihm, wobei sie ein Flußbett durchqueren. Da hält der Mann, alle steigen aus, und er erklärt ihnen ein paar Minuten lang die Taufe.

 

Wir fahren also nach Kerung, wo ich schon 2015 einmal mit Kul war, nach dem Erdbeben. Damals hatten die Eckzimmer des U-förmigen Flachbaus schwere Mauerschäden. Das ist alles repariert und die Schule hat einen neuen Betontrakt bekommen.

Uma liebt diese weitläufige Schule, weil Rektor Khilak Bahadur Karki viel lacht und die Klassenzimmer alle mit Holz verkleidet sind – und ein großes Oberlicht haben. Für viel Sonne. Das ist eine Erfindung von Kul, zuerst in Angpang eingebaut.

Der Name dieses Rektors, das „Karki“, kommt von einer der zwölf Untergruppen der Chhetri-Kaste, der Kaste der Krieger. Sie und die Brahmanen stehen an der Spitze der nepalesischen Kastengesellschaft.  Die Königsfamilie und der Adel entstammen z. B. den Chhetri.

 

„Wir haben 100 arme Kinder“

Für unsere Begrüßung stellen sich alle Kinder auf. Es gibt minimal Reden, ein bisschen Schals,und dann ist innen die Lehrerkonferenz – fast feindlich. Weil so viel zu tun ist und weil wir so wenig tun, in ihren Augen. Wir fördern nur 13 arme Kinder. „Aber wir haben 100 arme Kinder“, sagt Englisch-Lehrer Pawan Kumar verbittert. Und es fehlen zwei Englisch-Lehrer für die Klassen 1 – 5, mit je 2150 Euro Jahresgehalt. Und alle Lehrer bräuchten einen Fortbildungskurs, zu dem sie die anderen Lehrer von weit herum einladen würden – 2100 Euro.

Und es fehlt eine Unterkunft für 30 Kinder, weil ihre Schulwege 2 Stunden sind. Unterwegs treffen sie auf Bären. Zwei Kinder starben schon. So ein Hostel mit seinen Sechs-Bett-Zimmern käme auf 32 000 Euro.

Bibliothek aus Holland

Ich sehe die ganze Reihe der Lehrer am Tisch gegenüber – junge und alte, wie bei uns. Ich sage, dass ich sie alle bewundere, weil sie ihre besten Jahre hier im abgelegenen Vorhimalaya opfern. Zum Beispiel Pawan Kumar: Seine Heimat liegt ganz im Westen von Nepal. Seit 18 Jahren ist er Lehrer und war schon an vier Schulen. Die in Kerung ist die beste, sagt er, mit ihren 370 Schülern und 16 Lehrern. Der Rektor ist gut, die Einrichtung ist top. Zum Beispiel sorgte ein holländischer Nepalverein für eine Bücherei wie in Europa.

Ein elsässischer Verein bezahlte auch ein Hostel für die Lehrer. Es ist eine hochmoderne Kiste à la Tiny House. Der Rektor zeigt uns später sein Zimmer da drin, 3 x 3 Meter groß. Da kocht er, da hat er viel Langeweile. Zu seiner Familie weit entfernt kommt er nur dreimal im Jahr.

Pawan Kumar hat es genauso schwer: Er zog extra um, vom fernen Westen ins südliche Terai – ins Flachland nach Indien. Weil dort die Schulen gut sind. Seine Kinder (die Tochter ist in der 12. Klasse, sein Sohn in der sechsten) sieht er nur in den langen Ferien im Herbst, Winter und Sommer. Dann braucht er zwar nicht mehr drei Tage zu fahren wie früher in seine Heimat, aber es sind immer noch zwei Tage: Einen nach Kathmandu und nochmal 12 Stunden per Bus.

Nachrichten aus einem fernen Land

Die Stimmung von Pawan Kumar wird immer besser, weil ich die Lehrer so gelobt habe und weil ich den Zwölftklässlern so interessant von Deutschland erzähle. Wie die Jugend hier immer weniger Arbeitstage anstrebt und nur noch einen Tisch und einen Stuhl für ihren Job braucht, egal wo – Hauptsache, der Computer hat Netz. „Hab ich´s euch nicht gesagt?“, sagt Pawan, „in Europa geht alles mit Homeoffice.“

Ich erzähle auch vom Freizeitstress hier, zum Beispiel von einem Freund am Chiemsee, der seine Garage nicht mehr fürs Auto braucht, sondern für sein Boot, für den Gleitschirm, für die Skier, das Mountainbike und sein Outdoor-Graffl für die Berge. Nebenbei ist er noch Manager. Aber das kriegt er schon hin, mit ein bisschen Haschisch. „Das ist der Westen“, sage ich zu den Mädels und Jungs, „und es ist gut, diesen Luxus mal kennenzulernen. Aber nur kurz. Weil gesund ist er nicht.“

Sie träumen alle von Kathmandu, vom Kino dort und von den schönen Bildern, die ihre Handys zeigen. Von wunderbaren tanzenden Mädchen und glücklicher Liebe. „Aber besser ist es“, sag ich, „nach einem halben Jahr Kathmandu wieder zurückzukommen. Weil Kathmandu ist ein Meer von Durcheinander und Verkehr. Da fahrt ihr morgens mit dem Roller zwei Stunden im Stau zur Arbeit, und abends wieder zwei Stunden im Stau zurück. Da habt ihr kein Leben, nur Abgas.“

Zerfallendes Hostel

Rektor Khilak und Lehrer Pawan führen uns noch zum Essen, vorbei am alten, fast zerfallenen Hostel für die Schüler, wo das Moos aus den schiefen Türrahmen wächst. Sie lächeln sich an: Schnell vorbeigehen, damit es den Gästen nicht einfällt, mal reinzuschauen.

Sie bringen uns ins Dorfrestaurant, das von außen wie ein ärmliches Bauernhaus aussieht und innen voller Glanz ist: alles holzverkleidet, nagelneu. Der Gastwirt ist gleichzeitig der Leiter des Schulkomitees. Seine Frau sieht klug aus. Sie lächelt und bringt uns geröstete Maiskolben und Büffelmilch – eine ganz praktische Mahlzeit.

Dann geht es wieder zurück nach Okhaldhunga. Regen setzt ein. Es gießt. Wir stoppen in einem unscheinbaren Restaurant mitten in der Prärie. Aber innen herrscht Hollywood: lauter breite Sofas und geschnitzte Tische. Wie in einem englischen Club.

Der Eigentümer ist ein Ex-Schüler von Uma. Ein bäuerlicher Mann, wilde Haare, viel Geschäftssinn in der Miene. Er bestätigt, was ich gleich dachte: Es sind Möbel von Mekh, von Kul´s ältestem Sohn. Denn Kul steckte Mekh, als er 15 war, in die Emirate, um ihn vor dem Tod zu bewahren: Er sollte als Kindersoldat zu den Maoisten, im Bürgerkrieg, der damals herrschte. Die Maoisten holten sich einfach alle Jungs aus den Dörfern.

Mekh lernte in Arabien das Schreinern. Und nach 14 Jahren war er wieder daheim und bastelte sich aus Wellblech eine Werkstatt neben Kul´s Haus. Er stellte einen Schneider ein, der ihm aus arabischen Stoffen die Bezüge für seine Polstermöbel nähte. Diese Sofas stehen jetzt im Restaurant.

Ich frage Uma, ob der Gastwirt genug Gäste hat, ob er genug verdient für diesen Prunk. Sie winkt ab: Viele Tiefland-Nepalesen stoppen hier, weil sie gehört haben: Steig ich den Hügel daneben hoch, dann seh ich den Mount Everest. Und einmal im Leben den Everest sehen ist besser als nix.

Banking am Steuer

Heimwärts gießt es immer noch. Nebel. Trotzdem stoppt unser Fahrer irgendwo in einer Kurve und zieht seine Bankauszüge aus dem Handschuhfach. Uma´s Handy leuchtet und Utsab diktiert die Banknummer und er macht am Steuer sein Homebanking. Derweil überholt uns wieder ein Tuktuk, das wir grad überholt haben – und dessen Fahrer unmäßig frieren muss, in seiner offenen Kabine.

14.

Heute Morgen ist in Okhaldhunga der Markt, ganz malerisch, und ich besinne mich: Schau auf die Menschen! Weil sie ja von all den Dörfern rundum kommen. Es sind hingekauerte Omas dabei mit dick selbstgedrehter Zigarre. Dunkelste schmale Bauern wie Beduinen. Mongolische Mädchen. Und plötzlich eine europäische Frau mit Kind, eine Touristin! Hab ich gleich mal gegrüßt.

Wieder zurück, treffe ich Diku. Sie schloss in Maidane die Schule ab und musste danach fünf Jahre warten mit ihrem Studium, weil kein Geld da ist. Sie hat fünf Geschwister. Die Eltern schaffen es geradeso, für alle das Essen aus ihrem Land zu holen, Kartoffeln und Mais. Mehr nicht.

Am Abend tanzt die kleine Shristi, 7, aus Spaß in der Küche. Sie wohnt einen Stock tiefer. Ihre Mutter arbeitet in Rumänien. Die ältere Schwester passt aber schlecht auf sie auf und streitet mit der Mutter, wenn sie mal kurz da ist. Also kommt Shristi oft nach oben. Dort erlebt sie, wie der Eier-Mann anklopft – ein sehr freundlicher, ganz hagerer kleiner Bauer. Uma und eine Nachbarin lüften das Tuch von seinem Korb und heben jedes Ei persönlich heraus, schauen es genau an und kaufen es – mit viel Lachen.

Utsab tanzt danach ein bisschen mit Shristi nach Handymusik. Vater Raju schaut zu. Er leidet gerade optisch an karminroter Farbe im Haar, was auch Uma und Laxmi probiert haben. Er bleibt immer ein bisschen für sich. Vor allem nach dem Unterricht. Utsab sagt einmal etwas sehr Gutes über ihn: „Mein Vater war in den 17 Jahren, wo ich ihn kenne, immer am Lachen. Ich hab ihn nie schimpfen erlebt.“

Utsab ist genauso. Z. B. kam er gerade verschwitzt vom Sport und hat keine Zeit für seine Hausaufgaben. Drum setzt sich Raju mit ihm ans Schulheft. Die kleine Shristi wirft derweil ihren Papierflieger herum, oft auf Utsab. Er ist aber nie verärgert. Er nimmt den Flieger mit seinem weichen Lächeln, bläst ihn an, damit er besser fliegt, lacht zu Shristi und wirft ihn weiter.

 

  1. Start ins Abenteuer

Uma sagt am Abend: „Morgen fahren wir nach Patle. Rektor Lakpa hat gesagt, der Regen hat aufgehört.“ Raju nimmt sich extra frei und fährt mit, weil es Abenteuer ist. Totales Harakiri, schlittrige Piste, Rumgewerfe im Jeep. Es geht hoch in die Berge. Am Ende ist es tatsächlich so katastrophal, dass Utsab mitten  im Schlamm im Busch und in der Nacht sagt: „This is a memorable day.“ Da ist aber das Schlimmste noch gar nicht passiert.

Los geht es so: Ich trete am Morgen auf die Straße und sehe einen ganz interessanten jungen Mann daherkommen, schmal, schwarze Klamotten, schwarzer Pferdeschwanz und ein Gesicht wie Johnny Depp – so lachend und klug und mit feinen Zügen. Ich denke mir: Bei uns daheim wäre er in der Hippie-Szene ganz vorn, von den Mädels umschwärmt.

Dieser junge Mann ist unser Fahrer. Uma lacht, als sie seinen Namen sagt: Jide, das bedeutet „Kleiner“. Eigentlich heißt er Krishna (sprich: Krisna). Dieser Jide mit seinen kantige Backenknochen und den langen schwarzen Wimpern hat alte Badeschlappen an. In denen absolviert er später den ganzen Schrott unseres lehmigen Berg-Gewurschtels, quasi barfuß.

Obwohl so zart gebaut, rotiert Jide das Steuer wie wild. Und er beobachtet mich, wie er später sagt, ob ich das Rumschleudern aushalte. Ich seh immer von hinten zu, wie er in der größten Matsche 500 Handyanrufe annimmt und elegant weiter nach oben schrubbt. Ich halte mich dabei so verzweifelt am Vordersitz fest, dass ich heute noch einen Schmerz im Ellenbogen hab.

 

China am Weg

Los geht´s zivilisiert: Jide lenkt auf eine Piste, die links weit weg Maidane sehen lässt und rechts Kerung. Wir passieren eine Trekkingruppe aus China, wo der Guide vorweg geht und acht Damen mit miesester Miene hinterherschlappen und die Porter (Träger) fast zamkrachen unter ihren Maxi-Taschen und Beuteln. Warum sie hier, im Vorhimalya, wandern, ist ein Rätsel – wahrscheinlich, um mal den Everest zu sehen.

Dann geht es hoch nach Jhapre auf 2800 Meter. Da ist der Feldweg schon schief und krumm und steil. Ich frage mich, wie die Leute da oben ihr Baumaterial raufbekommen, die Zinnbleche fürs Dach und die Fenster. Es sind zwar nur ein paar Häuser, aber fast alle modernisiert.

 

Dann geht es weiter  auf 3260 m. Unser Jeep ist nur zu bewundern. Per Runterschalten aufs Differential klettert Jide alles hoch, obwohl die dicken Reifen blank gescheuert sind mit null Profil. Im Wald vertreibt er fünf Vervet-Affen mit ihren langen Schwänzen und stoppt erst vor einem Erdrutsch. Den klären aber gerade Arbeiter. Sie werfen extra Steine für uns in den Matsch, wir kommen weiter.

Irgendwann sind wir wieder runter auf 2450 m und in der Nähe von Pattle. Da beginnt es zu regnen. Und wie. Nicht gut für die Rückfahrt.

 

Betonkästen im Nichts

Rektor Lakpa stapft im Parka und ohne Schirm zu uns her, über den sandigen Pausenhof. Wir bewundern derweil aus dem Autofenster eine Sensation neben ihm: Zwei Betonblocks. Gigantische nasse Betonblocks. Mitten im Nichts. Am Rand des Pausenhofs. Es sind die neuen Schulgebäude für je sieben Zimmer. Gespendet von der Asian Development Bank. Ich frage mich, wie der Beton dafür herkam, bei diesem zerfurchten Waldweg.

Wir stürzen ins Lehrerzimmer, gefolgt von so vielen Schülern, dass der Raum gepresst voll ist.  Der Regen trommelt so stark aufs Blechdach, dass Mikrophone her müssen. Die Kinder sind jetzt wie bei uns in der Schule: Sie wissen, dass einige Mädchen in ihrer Freizeit kleine Tänze für uns einstudiert haben und wollen zuschauen. Sie feuern sie an, genauso wie es deutsche Kinder tun.

Die Tänzerinnen sind ernst. Sie werden noch ernster, als Lakpa auf dem Handy ihre Musik nicht findet. Sie zeigen ihm, wie es geht. Dann erkenne ich den Segen des Internets: Die Mädchen haben nämlich auch eine Choreografie aus Korea drauf. D. h. sie reisen um die Welt, obwohl sie in der abgelegensten Schule sind.

Unterstützung für zwei Kinder

Uma hat Kleidung, Schuhe und Rucksäcke, Schreibblocks und Stifte für zwei arme Schüler dabei, die wir fördern. Beide wurden von Lakpa nachgemeldet. Die anderen 13 Kinder bekamen ihre Sachen schon im Frühling. Aber damals war der Weg genauso kriminell.

Uma sagte uns vorher: „Wir bleiben nur ganz kurz, damit wir noch im Hellen heimkommen.“ Aber da wird nix draus. Wir müssen nämlich noch mit den Lehrern essen gehen.  Rund um den oft windumtosten Schulhügel ist das Dorf hingestreut, und eins der Häuser ist ein Restaurant. Innen ist alles rauchgeschwärzt und einfach. Der Lehmboden trägt simple Bänke und Tische. Auf einer Bank zeichnet sich unter dicken Decken ein Schläfer ab: unser Fahrer Jide. Er springt auf, als er uns sprechen hört, lacht wie immer und zeigt auf mich: „Sei immer glücklich!“

Als wir losfahren, ist es Nacht. Der Regen hat aufgehört, aber der Lehm ist noch glitschiger als vorher. Dreimal stecken wir gleich am Anfang fest. Uma zupft  immer Zweige und wirft sie vor die Reifen. Ich denke, das ist ein damenhafter Versuch, um nicht tatenlos dazustehen. Aber die Zweige sind das übliche Mittel. Sie wirken.

Jedes Mal qualmen die Räder. Aber beim vierten Mal ist es aus. Nix mehr. Das Motorgedrehe ist so laut, dass es in der Ferne gehört wird.  Stimmen rufen her. Wir sind so froh,  diese Worte aus dem Dunkel zu hören. Drei junge Männer bieten ihre Hilfe an.  Sie treten aus der Nacht, schieben an,  und wir kommen raus.

Aber es ist wie im James Bond-Film: Ist ein Fall gelöst, wartet 5 m weiter der nächste. So orgeln wir bis zum Weiler Tuksinde auf der besagten 3260 m Höhe. Da steht ein einziges größeres Haus, regennass und düster. Außen Hundegebell und innen sitzen alte Leute am Tisch und junge Männer am Feuer. Alles rauchgeschwärzt.

Uma will hier übernachten. Jide sagt: Besser weiter, weil wieder Regen kommen kann. Dann wird´s noch schlimmer.

Beim Tee erzählte er uns aus seinem Leben: Schon mit 16 saß er am Steuer. Jetzt ist er 26. Dazwischen fielen seine Heirat, ein Kind, die Trennung, und vor Frust begann er zu rauchen. Seine Tochter lebt jetzt bei seinem Bruder.

Und keine Freundin? Uma und ich sagen: Bei so einem guten Aussehen müsste er doch 10 Freundinnen haben! Und ich warne ihn: Nicht auch noch zu Alkohol greifen. Nein, sagt er, nie. Aber später, wieder daheim, bekommen wir raus: Er nimmt Drogen.

Bei Handylicht

Wir steigen  ein und weiter geht´s unter einem sternenklaren Himmel. Drei Mal sitzt der Jeep jetzt so gravierend fest, dass Jide den windigen rostigen Wagenheber rausklaubt, bei Handylicht drunterschiebt, in seinen Badeschlappen ächzt und herumkurbelt und Steine unter den Reifen steckt. Die schleppt der Rest der Mannschaft an: Raju, Utsab, ein mitfahrender Mann (Jides Freund)  und ich. Wir füllen Furchen um Furchen. Teils mit Baumstämmen und Ästen. Ich krieg einen guten Ruf, weil ich so mitmache. Als geheiligter Tourist, in dem Alter…

Jide gibt nicht auf. Uma steht jedesmal daneben und friert in ihrer dünnen Bluse immer mehr. Utsab hackt mit einer dünnen Eisenstange herum. Ich trete den Lehm zurecht, weil ich als einziger feste Schuhe hab. Beim letzten Aufsitzen kommen wir nochmal raus, aber ein paar Meter weiter stecken wir wieder fest. Um 22 Uhr, auf 3000 Meter Höhe, bei Minusgraden, gibt Jide auf. „Wir laufen nach Jhapre runter“, sagt er, „das werden wir schon finden.“ Alle stolpern  45 min bergab, im Handyschein. Wir passieren einen anderen Jeep, der einsam in einer Kurve steht. Auch nicht weitergekommen. Das Dorf finden wir. Jide ist glücklich.

Er geht gleich ins erste Haus. Da sitzen die Männer des anderen Jeeps und trinken Schnaps. Bei meinem Anblick schieben sie die Flaschen weg. Sie hatten den Alk im Auto, kommt später raus. Und am nächsten Morgen sind sie betrunken und benutzen schlechte Wörter.

Wir sind zu sechst und damit zu viel für dieses Haus. Die Eigentümer empfehlen uns  in eine größere Unterkunft. Das geht problemlos, 150 m weiter. Dort kochen noch schnell zwei Frauen für uns.  Jide wird übergangslos zum Kellner und sein Freund schnipselt Gemüse, als wäre er der Koch.

Jide besorgt sich noch eine Schnapsflasche, was seinen Ruf stark sinken lässt, und um halbeins sind wir alle im Bett, ziemlich kalt.  Uma hat sich vorher noch am Feuer gewärmt, aber es half nicht. Am Morgen hat sie Mandelschmerzen.

Jeeps retten

Schon um fünf Uhr springen alle Männer (außer mir) begeistert aus den Betten: Wieder Abenteuer! Zwei Jeeps ausgraben!

Ich muss mit Uma dableiben. Ein Tourist darf nicht arbeiten. Die andern haben einen dritten Jeep organisiert und der bringt sie und das Alkohol-Team nach oben. Utsab erzählt später, dass dieser Alkohol-Jeep eine Qual war. Sie mussten zwei Furchen füllen. Aber dann war er draußen.

Weiter ging´s zu unserem Jeep. Da sagte der Dritt-Jeepfahrer zu Jide: „ Probier´s nochmal!“ Aber Jide sah keine Chance. Da setzte sich der andere rein – und  kam sofort raus, ohne Problem.

Everest im Morgenlicht

Uma und ich betrachten derweil den großen Sonnenaufgang vor Jhapre. Wir sehen die lange Reihe der Schneeberge mit dem Everest mittendrin. Wir wärmen uns auf. Und tuckern dann mit allen andern nach unten, nach Okhaldhunga. Wobei wir wieder ins Rutschen kommen, wieder auf orangenem Lehmmatsch. Unser Jeep steht quer. Aber Jide kriegt ihn wieder rum.

„Ist 2000 Rupi Gefahrenzulage möglich?“, fragt er am Schluss. Uma rückt die 15 Euro problemlos raus. Zu den Gesamtkosten von 90 Euro. Und unser ganzes Team beschließt: Nie wieder im Jeep nach Patle. Nur noch zu Fuß, senkrecht hoch. Von Maidane aus sind es drei schweißtreibende Stunden. Aber das ist egal.

16.

In Angpang fand im Frühjahr ein Tausch statt: Kul wechselte zur Nachbarschule in Mude, als Leiter des Schulkomitees, und sein Cousin Rudra kam von dort und übernahm von Kul das gleiche Amt im Schulkomitee von Angpang.

Beide wohnen ganz oben am Rand von Angpang nebeneinander. Beide waren früher Trekkingführer. Und beide betrachten sich mit Vorsicht: Kul meint, Rudra macht viel zu viel Soziales und lässt dafür seine kleinen Felder liegen. Und Rudra hat etwas gegen die Übermacht von Kul, sein starkes Bestimmen.

Rudra und seine Frau Chini (links) kommen jetzt plötzlich nach Okhaldhunga zu Uma gefahren, mit dem Motorrad, nach 1,5 Stunden Gekurve über 80 Windungen. Strahlend. Rudra sagt fünfmal, und kein Mal zu viel, weil ich es mir dadurch wirklich einpräge: Du musst die fünf Lehrer von Angpang weiter bezahlen. Wenn nicht, geht unsere Schule von acht Klassen auf fünf runter. Sie wird bedeutungslos. „Kinder von Nepal“ hat diese Schule gepflanzt – also müsst ihr sie auch weiter pflegen.

Ich hab dazu immer feste genickt, und nix zugesagt, und dann daheim aufs Konto geschaut –  und es haut hin für heuer. Es geht. Auch, weil die Regierung 2023 einen unserer fünf Lehrer übernahm. Es bleiben also noch vier. Für sie ist schon alles überwiesen, weil Uma mahnte: Der Wechselkurs ist gut, beeil dich.

17.

Irgendwann, kurz vor meinem Aufbrechen zurück nach Kathmandu, hat Uma die Idee: Wir fahren mal nach Halesi. – Halesi ist quasi Mekka. Nur noch übertroffen vom Verbrennungstempel in Kathmandu. Es ist ein Höhlen-Heiligtum, ganz mysteriös, von dem Kul früher mal in einem Nebensatz erzählte, und das ich mir merkte und ihn drängte: „Fahr mer mal hin!“

Haben wir gemacht. Wir erlebten unten im Dunkel betende Jainisten. Von denen Kul oben sagte: Das ist die beste Religion. Das sind wirklich gute Menschen. Aber in dieser Höhle betet jeder. Utsab unterstrich das später: Es ist ein Heiligtum für Hindi und Buddhisten,  und  nirgendwo sonst werden gleichzeitig Shiva, Vishnu und Parvati verehrt.

Dieser Jainismus kommt aus dem Indien des 4. Jahrtausends, hatte 1500 v. Chr. einen Propheten und um 550 v. Chr. einen gewissen Herrn Mahavira zur Hand, der zu Buddhas Zeit eine feste Basis legte. Der Brahmanismus gab aber schon vorher viel dazu – genauso wie dem Hinduismus. – – – Ein Jainist lebt gewaltlos, hat wenig Besitz und ist wahrhaftig. Er achtet alles Belebte, alle Tiere und Pflanzen. Deshalb gab es schon im Mittelalter Tierschutz-Häuser und Vogel-Krankenhäuser.

Jetzt fahren wir also spontan nach Halesi (sprich: Holesi).  Uma geht am Abend zuvor mit uns durch die Einkaufsstraße. Zieht irgendwo ein Hemd raus – „das kauf´ ich.“ Ich denke, für Utsab. Merke aber am nächsten Morgen: Für mich! Damit ich vornehm ausschau´ in Halesi. Ich hab ja bloß T-Shirts dabei und  nix mit Kragen.

In dieses Hemd gesteckt, trete ich am Morgen um 6.30 Uhr auf die Straße. Uma kommt nach, Raju auch, im Anzug, und Laxmi, Utsab, Suman und Tante Anita von Tee-Shop gegenüber. Alle sind perfekt sonntäglich angezogen. Wir warten auf unseren Jeep. Er kommt nicht. Warum? Weil er gewaschen wird für Halesi. Unser Fahrer Tschembe macht das. Blitzblank kommt er um 8 Uhr.

Tschembe, unser Fahrer

Suman und Utsab fahren mit dem Motorrad voraus: Runter zum Dhudkosi-Fluss und rauf in die Berge, oben nach links, durch 80 000 Schlaglöcher, 92 km. Beim Fluss: Schnell noch eine Münze reinwerfen.

Wir hinterher. Anita und Laxmi haben eine Tablette gegen Übelkeit intus. Also kann nix mehr schief gehen. Aber es gibt diese Polizei-Stationen am Weg, diese eiskalten Männer. Tschembe kommt von einer geknickt zurück: „Didi“, sagt er zu Uma, „hast du 500 Rupi?“ Didi heißt Schwester. Das sagt man immer, egal ob verwandt oder nicht. Man muss immer was sagen. „Bruder“ oder „Sir“ oder „Ma´m“. Zum Beispiel: „Lakpa-Sir“ zu Rektor Lakpa in Patle.

Uma zückt den Schein. Tschembe hatte nämlich kein Fahrtenbuch. Weil es der Jeep des Gemüsehändlers ist, und der hat generell kein Fahrtenbuch. Er besticht die eiskalten Polizisten immer mit einer Kiste Gemüse. Am Rückweg schleicht sich Tschembe deshalb in tiefster Nacht durch die letzten Hintergassen von Okhaldhunga, um diesem Posten zu entgehen.

Aber wir sind jetzt unterwegs, halten das ganze Schlagloch-Gerumpel aus und finden in Halesi staubüberzogen einen Parkplatz. Dort ragt ein Tempel auf, vor dem Höhlenschlund, und Laxmi darf nicht näher kommen. Warum? Irgendwas mit Menstruation, sagt Utsab.

Gegenüber sitzt ein Saddhu, braungebrannt, nettes Gesicht, grauer Bart – er hat so ordentliche, fein gewachsene Zehen. Und eine graue Anzugjacke. Neu.

Alle bestaunen jetzt Uma und Anita, die auf dem Vorplatz professionell alles auspacken, was ein Hindu fürs Gebet braucht. Ich kann es nicht fassen – wir haben ja erst gestern Abend beschlossen, herzufahren, und so schnell ist alles im Korb! Von Kräutern bis zur Kokosnuss, von Münzen bis zur roten Thikafarbe, auch 100 kleine Dochte.

Uma taucht ihre Finger rücksichtslos in diese Farbe. Anita genauso. Es wird gemischt, gewerkelt, geräuchert und gestreut. Dann laufen wir dreimal um einen kleinen Tempel. Und geben noch ein paar Rupi für einen alten Mann, der herumsitzt und roten Segen auf die Stirn tupft. Dann runter in die Höhle, barfuss. Fotoverbot.

Es ist ein Zick-Zackweg mit Nischen, wo sich Betende hinsetzen können – also Leute, die dicke heilige Bücher lesen, oder (wie jetzt) eine Zen-Gruppe aus Korea, die alte Mantras spricht. Die stehen aber nicht  mehr auf Papier, sondern im Handy. Jeder hat eins vor sich. Ein alter Mönch ist der Chef. Uma, Raju und Utsab gehen schnell rüber zu ihm für einen Segen. Der ist zwar buddhistisch, aber das ist egal. Utsab sagt: Den nehmer auch mit, kann nicht schaden.

Unten ist das Allerheiligste eingezäunt, der berühmte Shiva-Lingam-Stein. Er muss aus dem heiligsten Fluss Indiens kommen, dem Narmada, dessen weibliche Fluten diese männlichen Steine so rund wie einen Penis scheuern. Wer sie berührt, kriegt die endlose Lebensenergie des Flusses mit.

Uma lässt mich jetzt alles mitmachen, was sie macht: Münzen werfen, auf dem Felsen opfern, „Om namen Shiva“ sagen. Uma betet so gut. Ich hab noch nie jemanden so liebevoll beten sehen.

Ein alter Priester sitzt da und beobachtet, wie Suman 5 Meter weiter die Felswand erklimmt und sich durch einen Spalt zwängt. Der Spalt bringt Reinigung. Utsab klettert hinterher und bleibt stecken. Der Priester kommt langsam dazu: „Halt dich da und da fest“, sagt er, „dann zieh dich vor, dann gehts.“ Ich hab auch Lust, es mal zu probieren. Fürchte aber um meine Hose. Alles so schmuddelig.

Die zweite Höhle

Dafür gibts in der zweiten großen Höhle etwas Leichteres zu probieren. Diese Höhle mitten im kleinen Berg über der ersten Höhle ist nicht so heilig. Sie hat unten ein kleines Loch in der Wand, wo man das Gebrüll eines Ochsen erzeugen kann. Vor uns sind Japaner, die es schaffen. Auch Utsab schafft es. Aber ich nicht. Ich kann reinblasen, was ich will – mein Atem verpufft.

Eine lange Treppe führt nach oben. Drüber hängen Schwaden von Fledermäusen. Man muss Vollgas geben, damit sie einem nicht auf den Kopf scheißen. Oben sitzen rechts zwei buddhistische Mönche und lesen Bücher. Unentwegt kurbeln sie mit einer Hand eine kleine Gebetstrommel. Über ihnen erhebt sich wie ein gewaltiger Bienenstock die Höhlenkuppel.

Handykameras blitzen und schon gehts wieder runter – auf Souvenir-Stände zu. Uma kauft lachend eine 70-Cent-Kette aus buntem Plastik für Laxmi. Ich protestiere: Laxmi muss doch selber aussuchen, was ihr gefällt? Aber Uma entscheidet sowas ohne nachzudenken. Raju sagt: „Ich hab mir noch nie was zum Anziehen gekauft, das macht alles Uma.“

Kaum zurück, müssen wir die zwei Kokosnüsse opfern. Suman knallt sie auf eine Stufe. Es kracht wie Pistolenschüsse. Uma spritzt die Milch herum und dann müssen wir das Innere essen, rot von ihren roten Fingern.  Macht nix, da wird man nicht von sterben.

 

Dann streichen wir durch die Hintergassen, um etwas zu essen zu finden. Im minimalst kleinsten Imbiss gibt es super gebratenen Reis, gekocht von einer freundlichen Frau aus Okhaldhunga. Sie verschlug es vor vielen Jahren hierher.

Dann alles zurück. Durch all die Schlaglöcher und doppelt so viele Kurven. In der Nacht. Kurz vor Okhaldhunga geraten wir in eine riesige Ziegenherde. Dann – um 20 Uhr – sind wir daheim. Von Uma träume ich jetzt, dass diese Götter und Traditionen sie belasten. Trotzdem macht sie alles mit. Sagt aber auch: „Alle Religionen sind gleich.“

18.

Nach der Rückkehr von Uma nach Kathmandu hab ich mich mal ins alte Bhaktapur aufgemacht, 13 Kilometer entfernt, 80 000 Einwohner und auf einem Hügel oberhalb eines komplett verschmutzten Baches gelegen.

Hochzeitsfoto vor den alten Tempeln

Bhaktapur hieß früher ganz anders, nämlich „Reisdorf“, und erst seit 100 Jahren „Stadt der Gläubigen“ wegen seiner vielen Tempel. Es ist innen sehr romantisch und alt. Man kann durch die Gassen streifen, nach dem berühmten Büffelmilch-Joghurt spähen und – vor dem Monsunregen flüchten. Der duscht plötzlich so stark runter, dass ich – obwohl im Torbogen zu einem kleinen Tempel anfangs gut aufgehoben – trotzdem nass werde. Der Tempel wird grad neu gebaut und zwei Schreiner winken mich  nach innen, zu mehr Schutz. Es sind so gute Männer. Der eine ganz europäisch aussehend, klug und ruhig, und der andere ein „best of Nepal“-Mensch: Warmherzig, bescheiden und immer von innen lächelnd. „Ja“, sagt er, „Bhaktapur ist eine spirituelle Stadt. Black magic.“

Zum Zoo

Am nächsten Tag laufe ich nach Patan, der Zwillingsstadt von Kathmandu, ungefähr 5 km weg – 254 000 Einwohner und uralt. Der Weg führt über einen grauen, vollkommmen verschmutzten breiten Fluss und dann hinauf zu einem teuren Hotel und vorbei an einem Tierhändler mit Enten, Gänsen und Hühnern, alle in simple Käfige gepfercht.

Ich geh zum Zoo. Das mach ich immer, um die Elefantendame Pawankali zu sehen. Sie ist 72, darf einmal am Tag raus und ihr Wärter nimmt dann von den Besuchern ein bisschen Geld, damit sie ihre Babys unter ihrem Rüssel durchreichen können. Das bringt Glück. Sonst steht Pawankali nur angekettet da, im ewigen Wiegeschwanken auf Beton.

Ich unterhalte mich gedanklich mit allen Tieren im Zoo. Es geht allen schlecht. Am schlimmsten haben es die zwei weißen Kaninchen und zwei Küken bei den Pythons. Sie sind nämlich ihr Futter. Und wissen, was kommt. Dass die Schlangen schon schauen. Darum beschließe ich, dass ich am Rückweg bei dem Tierhändler, an dem ich vorbeilief, zwei Enten freikaufe. Es ist interessant, wie zäh es für mich ist, diese Entscheidung hinzukriegen und hinzugehen und nach zwei Enten zu fragen.

Die Männer dort bei den engen Käfigen verstehen sofort, obwohl sie kaum Englisch sprechen. Sie lachen. Der ältere sagt: „You are a great man!“ und haut mir auf die Schulter. Ich soll zwei Enten aussuchen. Das macht dann der jüngere. Er nimmt eine weiße und eine grün-blaue. Besser wären zwei von derselben Sorte gewesen, krieg ich später mit. Der ältere Mann fragt: „Wo bringst du sie hin?“ Ich sag: „Unten ist doch der Fluss.“

Ich merke mir, wie er die Enten beim Einpacken anfasst, seinen Griff um den Hals und um die Flügel. Dass ich sie später wieder rauskrieg aus der rosa Tüte. Dann marschier ich zum Fluss und denke eine Stunde danach: Die Götter waren dabei. Sonst wär es nicht so gut gelaufen.

Steh ich also vor den grauen Fluten, überall Wegwurfplastik zwischen dem Geröll, und hab sogar ein Messer dabei für die Fussfessel (beide sind zamgebunden). Die blaugrüne Ente fliegt aufatmend los und in die Luft und jubelt. Ich spüre direkt ihre Begeisterung über das Am-Leben-Sein, über das wundervolle Leben. Dann taucht sie ins Wasser, immer wieder,  und die andere fliegt hinterher – aber mit dem Tütengriff und der halben Tüte um den Hals. „Mann!“, denke ich, „jetzt muss ich in diese graue Brühe steigen und das runterkriegen…“ Aber da steht plötzlich ein kleiner Junge im Wasser, barfuß, mit lumpiger Hosen und Hemd, und ich zeig ihm: Die Tüte! Er lacht und geht hin und zögert, weil er sich nicht traut, die Ente anzufassen. Ich zeig ihm, dass es nur um das Plastik geht – er schafft es.

Derweil kommen zwei nette ältere Männer näher, kaum englisch. Wie viel ich bezahlt hab? 1500 Rupi. Viel zu viel! 1200 ist der Preis für eine Ente, 8,70 Euro. Also zwei Euro too much. Wie viele Enten noch in den Käfigen sind? 15. Sie sind schockiert.

Dann loben sie mich: „You are a good man!“ und warnen vor den Hunden hier. Prompt kommen fünf um die Ecke. Ich seh schon das abendliche Ende meiner Enten. Weil sie nicht zamhalten. Weil sie nicht beide weiß sind oder beide blaugrün. Zusammen könnten sie sich vielleicht verteidigen.

Shiva is watching you!

Die Männer scheuchen die Hunde weg und der eine schmale, braungebrannte Mann sagt: „Ich nehm eine Ente mit, ich hab einen Garten.“ – Derweil kommt ein dritter Mann dazu, nicht ganz so vertrauenerweckend, und will auch eine nehmen, auch für seinen Garten. Ich warne ihn: „Shiva is watching you! He wants free animals! Don´t eat the duck.“ Die anderen versichern, dass er sie lebendig hält. Meine Hotelfrau Samjana sagt später, dass die Leute schon ein Interesse an lebenden Enten haben, wegen der Eier. Weil sie als Tempelgaben besser wirken als Hühnereier.

Jetzt fängt der nette schmale Mann meine Enten wieder ein, ganz geübt. Er nimmt die blaugrüne Ente an den Füßen, dass sie kopfüber hängt, und der dritte Mann steckt die weiße in eine grüne Tragetasche.

Ich muss jetzt mit dem netten dunklen Mann zu seinem Haus in einer Seitengasse, damit ich sehe, dass sein Garten existiert. Der Garten ist auch da, aber voller Gerümpel und kahl und ohne Gras, eingezwickt in zwei Mietsblocks. Hühner laufen herum und eine Katze. „Ah!“, sag ich zu seiner Frau, „cat eating duck!“ Nein, sagt sie, die frisst keine Enten. Und so kommt sie in einen Verschlag, bis sie mal rausdarf.

In dem Garten gibt es seitlich einen schiefen Schuppen, der innen ausgestattet ist wie Tausendundeine Nacht, nur 2 x 3 m groß. Rundum ist alles ärmlich, aber da drinnen leuchten blaue und rote Teppiche mit funkenden Goldpunkten darin – das Wohn- und Schlafzimmer, ein Hort wie für einen Sultan.

Der alte Mann sagt jetzt „Koffi!“ und führt mich zu einem schmalen Imbiss neben einer Motorradwerkstatt. Da sitzen Schüler drin, reingezwängt, und nur der Eigentümer kann englisch. Weil er acht Jahre in Dubai gearbeitet hat. Er sagt, als wir gehen: „Komm wieder!“

Solche Mini-Restaurants sind das wahre Nepal.

Der alte Mann begleitet mich noch zur Brücke am Fluss, dann verabschiedet er sich und geht heim. Ich marschiere den Rest und beschließe im Basar, einem Rikschafahrer zu helfen und nehme ihn durch die engen Gassen. Diese so guten Männer mieten die Dinger teuer, für 1000 Rupi am Tag,  und müssen das immer reinradeln.

  1. In Pokhara: V.S. Naipaul schrieb einmal das Spitzenbuch „Indien, Land im Aufruhr“. Vor 30 Jahren. Er packte nur Porträts von Menschen rein, die er bei einer Reise durch Indien getroffen hatte, Priester und Bettler, Millionäre und Händler. Am Schluss war er auch kurz in Nepal, in Pokhara. Im Pokhara der Hippiezeit: Super. Nur Highlife am See mit Marihuana, Bootsleben und Sonne. Das ist aber alles nicht mehr. Hotels statt Reisfelder. Eine völlig durcheinander verbaute Stadt mit 320 000 Einwohnern. Aber der See ist schön geblieben und der Blick auf die Berge.

Ich hab auch nichts vom Hässlichen fotografiert, obwohl ich es, halb krank angekommen, noch mehr als sonst gespürt hab.

Das Kranke kommt, weil der Bus eine eiskalte Air-Condition hat und ich im T-Shirt dasitze. Neun Stunden, 200 Kilometer. Die Hälfte der Straße ist im Bau, was Staubwolken und Schlaglöcher ohne Ende bedeutet. Ich bewundere den schlanken Ticketjungen aus dem Sherpa-Hochland und den dicken Busfahrer, dass sie das jeden Tag aushalten.

Adesh

In Pokhara wohnt die Familie von Sunita, die mit Ehemann Saurav und dem kleinen Pranish in Pegnitz lebt, gleich neben uns. Ihre Mutter Laxmi und ihre Schwester Sushma kümmern sich um zwei arme Kinder, die wir von KvN her unterstützen. Ein drittes Kind wohnt entfernt, bei der Heimatstadt von Saurav. Sunita ist seine KvN-Patin und ich will diese arme Mutter auch besuchen, aber wegen des Dashain-Festes gibt es fast keine Busplätze mehr und nicht zu Wunschzeiten.

Von unseren beiden KvN-Kindern treffe ich nur Adesh, weil die kleine Nikita Paliyar wegen des Dashain-Festes nicht bei ihrer Großmutter in der Stadt ist, sondern auf dem Dorf. Aber Bärbel und Toni aus Auerbach (neben Pegnitz), die  später als ich nach Nepal fliegen, sehen sie kurz danach.

Adesh kommt genau zu Dashain bei Sunitas Eltern vorbei. Die Mutter hat viele kleine silberne Dinge festlich  aufgebaut. Ich krieg einen roten Thika-Tupfer auf die Stirn und Reis übers Haar gestreut  und ganz neues Geld geschenkt. Vater Predeep gibt mir auch eine Hindu-Mütze. Und es gibt 1000 Fotos.

Adesh hab ich zuletzt mit 14 Jahren gesehen. Jetzt ist er 18. Ganz schüchtern, sehr einsam, geprägt von dem schweren Leben allein mit seiner Mutter, die fast nicht sprechen kann und sich mühsam durchschlägt.

Er kann momentan nicht in die 8. Klasse, erklärt Suman, der Bruder von Sunita, weil ihm der Eintrag zur Staatsbürgerschaft fehlt. Den bekam er bisher nicht, weil sein Vater verschwunden ist. Aber gerade haben sie das Gesetz geändert. Jetzt reicht die Unterschrift der Mutter. Bis der Antrag durch ist, arbeitet Adesh 12 Wochen als Koch, eine Minilehre. Danach kann er in Restaurants helfen und dann wieder in die Schule gehen.

Adesh bekommt den Segen von Mutter Laxmi, dann muss er ihre Füße küssen. Danach sitzen wir in der Küche und er spielt mit seinem abgegriffenen Handy. Ich bitte ihn, mir auf Youtube ein trauriges, schönes Lied zu suchen, das ich am Abend vorher am Seeufer gehört hab. Da saß ein Mann im Dunkeln, das Handy im Gras, und hörte immer wieder dieses Lied.

Adesh googelt herum. Dabei bewegt er sich musikalisch zu jedem Lied, das nicht das richtige ist. Und er bekommt Mut und erzählt auf Englisch, dass er schon Musik macht, mit einer Gitarre. Ich zeige ihm die Tanzszenen aus Okhaldhunga von den Karaoke-Mädchen. Das könnte er auch machen.

Adesh ist ganz dünn. Er lacht angeboren gern, hat aber nicht viel zu lachen. Wenn er ernst ist, ist da Bedrückung drin.

Rowina

Bei Sunitas Eltern treffe ich auch Suman, ihren Bruder wieder. Er ist frisch verheiratet mit Rowina, einem sehr freundlichen, stillen Mädchen. Sie kennen sich vom Studium her und arbeiten jetzt in der gleichen Bank. Rowina wohnt auch hier und ich frage Sumans Mutter, ob sie die typisch nepalesische Schwiegermutter ist, die in vielen Büchern übers Dorfleben beschrieben wird, weil sie  ihre Schwiegertochter tyrannisiert? „Nein, überhaupt nicht!“, lacht sie.  Laxmi hat aber auch Glück mit Rowina, weil Rowina perfekt alles macht, was die Tradition verlangt: Ohne jeden Mucks kochen und helfen, immer ehrerbietig, immer still.

Nur wenn ich mich mit Rowina allein unterhalte, geht sie aus dieser Rolle und wird zur selbstsicheren jungen Frau, die fließend Englisch spricht.

 

Zur Familie gehört neu auch der kleine Hund Bruno, der viel herumbellt, aber auch sehr freundschaftlich ist – zu mir. Suman will ihn mir deshalb mitgeben. Normalerweise leben die Hunde in Nepal herrenlos auf der Straße, aber Vater Predeep holte ihn in den 4. Stock. Im 5. Stock rennt er lautstark am Geländer entlang und beobachtet unten das Straßenleben. Noch ein bisschen höher gibt es (auch neu) die Henne Kali, schwarz und mächtig plusternd, sobald ihr Bruno zu nah kommt. Sie legt täglich ein Ei.

Predeep und Suman schauen gern Fernsehen. Gerade läuft ein Bericht zur Militärparade in Kathmandu wegen Dashain. Davor gab´s Frauen-Wrestling. Aber das schaltet Suman schnell weg.

  1. Predeep

Jetzt hab ich mal Vater Predeep interviewt. Er vollbrachte ja eine Hochleistung, indem er aus dem Nichts drei Kinder auf gute Schulen schickte und ein großes Haus baute, viel untervermietet.

Er kommt aus einer Brahmin-Familie, also der obersten Kaste, aus dem Dorf Dhawlagiri Parbat 100 km entfernt. Das hatte damals 500 Häuser mit rund 2500 Menschen. Predeep hat eine Schwester und zwei Brüder.

Seine Mutter starb an einem Herzproblem, als er 16 Jahre alt war, und sein Vater 20 Jahre später. Er war ein Bauer gewesen.

Predeep wollte immer ein Geschäft haben. Deshalb ging er mit 19 Jahren nach Pokhara. Sein Vater gab ihm etwas Geld. Davon konnte er ein Hotelzimmer bezahlen, einen Raum mieten und den Großhändlern auf ihre Listen schreiben, was er für seinen Lebensmittelladen brauchte: Reis, Zucker, Erbsen, Nudeln…

Die Miete war billig, und so wuchs sein Umsatz von Jahr zu Jahr. Aber er musste schon um 5 Uhr aufstehen und bis abends um 8 Uhr im Laden sitzen – 365 Tage im Jahr. Das ging bis vor kurzem so, 40 Jahre lang.

Im Jahr 2045 des nepalesischen Kalenders, d. h. nach fünf Jahren, stieg Predeep um auf Stoffe. Stoffe interessierten ihn schon immer. Und sein Laden war nicht mehr so schmutzig.

In dieser Zeit, 2043 (man muss immer 57 Jahre abziehen = 1986), heiratete er Laxmi. Sie ist genauso alt wie er, mit nur zwei Monaten Differenz, d. h. jetzt auch 60. Es war eine arrangierte Ehe. Laxmi wäre gern Lehrerin geworden, aber das war unmöglich. Sie kommt aus einem Dorf 80 km entfernt.

Seinen Stoffladen hatte Predeep bis vor zwei Jahren. Es gab viel Konkurrenz und war ein hartes Leben – „sehr hart“. Seine Tochter Sunita erzählte einmal, dass sie lange zu fünft in einem einzigen Raum wohnten und dass sie als Kind viel kochen musste, weil ihre Mutter im Laden half.

Der Vater saß dort immer im Schneidersitz auf einer Matratze, tagaus, tagein. Bewegung bekam er aber, weil er einen kleinen Garten gekauft hatte, 700 m entfernt. Dort zog er Gemüse – und baute 2012 einen großen Mietsblock drauf. Nach zwei Jahren war er fertig. Die Untermiete bezahlt die Kredite.

Durch seinen kleinen Laden hatte Predeep es auch geschafft, alle drei Kinder auf eine englische Boardingschool zu schicken. Die Gebühr war damals nicht so hoch, sagt er. Es sind bessere Schulen als die Government schools.

Der Vater hat keine großen Hobbys. Er reist aber gern in die Dörfer, um den Bauern zuzuschauen. Hätte er einmal plötzlich viel Geld, würde er genau das noch mehr machen und sich überall mit den Leuten unterhalten.

Als Rat an die Jugend hat Predeep: „Passt auf euer Land Nepal auf. Übernehmt Verantwortung. Bleibt hier, arbeitet hier. Habt Respekt vor den Alten und liebt die Kinder.“

Laxmi war schon in Deutschland, zu Besuch bei Sunita in Pegnitz. Sie fand alles gut entwickelt, was Nepal noch fehlt. „Alles ist sehr verschieden von uns. Ihr habt schöne Dörfer. Wir sind noch auf dem Weg dahin.“

Der Vater vermutet, dass alle in Deutschland sehr verantwortungsvoll für ihr Land handeln – „hier bei uns weniger. Die kleinen Leute bei uns sollen sich mehr um Nepal kümmern.“

  1. Menschen

Mein kleines „Little Tibetan Hotel“ in Pokhara ist wie ein Park mit Zimmern drum herum. Voller Palmen. Ein Wunder mitten im unansehnlichen Geschäftsviertel am Seeufer. Daneben stand früher ein ähnliches Gartenhotel in altenglischem Stil.  Gibts nicht mehr. Ein weißer Hotelklotz sitzt drauf. Das erzählten sie schon 2019, dass der Eigentümer in London wohnt und so plant.

In der Stadt finde ich einen jungen Schneider, um meine Hose zu flicken. Er ist so interessant: Große schwarze Haartolle, dunkle Haut, verschlossen, ein eigentlich schönes Gesicht, aber zu. Und Eleganz in seiner Bewegung. Hier bei unseren Hippies wäre er sehr gefragt. In seinem laxen T-Shirt sitzt er beim wilden Stoff-Haufen an der Wand am Boden, zwei Nähmaschinen an der anderen Wand. Ich sehe zu spät, dass die Maschinen keinen Freifuss haben, also meine Flicken gar nicht aufs Hosenbein kriegen können. Aber er schafft es. Wortkarg, ohne große Regung. Und so perfekt.

Diese dunkelhäutigen Nepalesen kommen aus dem heißen Flachland bei Indien. Umas Bruder war dort Polizist und bekam genau diese dunkle Haut.

In Pokhara verkauft so ein dunkler Junge, vielleicht 14, Luftballons. Er hat so wenig Selbstbewusstsein. Ist so scheu. Ich kaufe ihm extra einen Ballon ab. Er lacht. Sein erstes Lachen. Sonst lacht er nicht.

Am Seeufer verkaufen nachts ältere Frauen Äpfel. Sie schleppen sich mit einem Korb voll ab und fast keiner kauft. Eine der Frauen hat auch Mangos und ich nehm´ zwei – schon sind zwei Kilo weg von ihrem Gewicht. Beim Geldrückgeben zögert sie. Dann gibt sie mir zwei Äpfel: „Dann hab ich weniger zu tragen.“

Sie hat so ein gutes Lachen, ein Gesicht voller Falten.

Drei Jungs stoppen bei mir am Seeufer, um die 13, und fragen, was ich da lese über Bhutan und Sikkim. Einer ist Hindu und verblüfft, dass es in Deutschland kaum Hinduisten gibt. Der andere ist Muslim und der dritte Christ. Sie lachen drüber – drei Religionen so nah beinander!

Im Geschäfts-Pokhara dröhnt eine große Musikbox am Gehsteig. Daneben liegt ein kleiner Mann, vielleicht 45, mit dunkler Haut. Er hält sein Stummelbein hoch und wackelt stundenlang damit.  Profibetteln.

Am Seeufer treffe ich zwei Jungs, einer ist gehbehindert. Er hat die gleiche Behinderung wie sein Vater, den ich vor vier Jahren sah.  Der Vater hat fast keine Beine und einen großen, schönen Kopf. Er war sehr freundlich. Er bekam auch viel gespendet, vielleicht 60 Euro am Tag. Sein Sohn, ungefähr 8, hat dasselbe klare Gesicht, genauso nur ein Minibein mit 25 cm und läuft alles mit den Händen. Er ist sauber angezogen und lacht. Er hält mir einen Becher hin. Ich gebe ihm 20 Rupi und seh, dass seine Hosentasche schon ausbeult vor lauter Geld. „Jaja“, sagt er, „es geht gut!“

Davor hatte ich zwei gehbehinderte junge Männer gesehen, ca 25, wo es schlimm war. Der eine konnte nur zappelnd laufen. Alles wackelte an ihm. Er kam kaum vorwärts. Der andere hatte seinen Vater dabei. Bei ihm war es nicht so schlimm.

Und ich stellte mich in eine belebte Gasse, um Leuten zuzuschauen. Es gibt viele schöne Mädchen. Und hinter mir war ein Eisladen: voller Betrieb. Wenn man sieht, dass der Normal-Laden in Pokhara nur einen Kunden pro Tag hat, und der Eigentümer drin versauert vor Langeweile, würde ich als Händler umstellen auf Eis.

Ich ging auch wieder in die Mischung aus Konditorei, Restaurant und Straßen-Frittier-Shop, der schon vor vier Jahren so gut lief, dass der Chef mit dem Geldverstauen nicht nachkam. Sein Haus ist wieder total voll. Kein Platz frei.

Dann werde ich um 500 Rupie betrogen beim Obststand. Hatte schon gleich das Gefühl, da nicht zu kaufen. Kann man nix machen. Beschwerde zwecklos.

Am Heimweg unterhalte ich mich mit fünf Kindern, alle sehr freundlich, auf englisch. Und gehe in ein kleines neues Kaufhaus, das alles hat, vom Eisbecher bis zur Waschmaschine inclusive dahockendem Eigentümer, der stumm im Computer die Verkäufe verfolgt. Dicker Nacken, unbeweglich.

Kurz ein Erdbeben

Heute Morgen etwas Erdbeben erlebt. Ich sitze im Bett mit meinem Rücken an der Wand. Dann denke ich: Warum bewegt sich da was in meinem Körper und geht an dem Holz des Bettes hin und her? Bis der Ventilator knackst und die Wand gegenüber einen zischenden Riss kriegt, dass der Spiegel wackelt. Alles bewegt sich, mein Bett auch – aber nur kurz. Also ein Erdbeben. Angst habe ich nicht. Ich denke nur, im Notfall springe ich raus und kletter´ aufs Flachdach.

Einen Tag später lese ich am Seeufer liegend. Da kommt wieder 4 x leise ein Erdbeben.  Ich denke: Komisch, unter mir muss genau eine große Röhre sein, mit bloß 50 cm Erde drüber, weil diese Erde so leicht schwingt wie eine Feder. Es ist, als wäre die Erde unter mir leicht und dünn.

Würfelspiel

Beim Dashain-Fest dürfen Kinder auf dem Gehsteig mit einem Würfelspiel etwas Geld verdienen. Ich schau einer Gruppe zu, wo ein dunkelhäutiger Junge, vielleicht elf, alle Passanten anstrahlt und zum Mitmachen einlädt. Die anderen bezeichnen ihn lachend als „black nigger“. Sehen aber nicht, dass er es ist, der das ganze Spiel am Laufen hält. Er stammt aus dem  heißen Flachland, deshalb seine dunkle Haut.  – Ein Rollerfahrer stoppt und macht dasselbe wie ich: Bissl was gewinnen und extra wieder verlieren, bis sie etwas davon haben.

Die Rollschuhläufer

Am Seeufer ist beim Riesenrad eine Rollschuhbahn. Phänomenal gut sind zwei Jungs. Sie skaten herum wie Profis. Wegen ihrer Sportlichkeit haben sie solche Fähigkeiten. Alle nepalesischen Jungs sind so sportlich. – Es erinnert mich an Kathmandu, wo jemand in einer Seitengasse eine große Kletterwand gebaut hat á  la Europe. Da zog sich ein Junge hoch, sprang geschmeidig von Griff zu Griff – und setzte sich danach bescheiden hin, still.

Bei der Skate-Bahn sausen die verschiedensten Völker herum, Mädchen mit 16 Jahren: mongolisch mit streng geschnittenem langen Kleid, sehr ordentlich. Und nepalesische Mädchen mit indischem Hosenkleid, das wehend in die Rollen fliegt. Und andere Kinder haben ihre extra zerfetzten Jeans und Sweater an. – Die Zuschauer lachen sich schief über all die Anfänger und ihre Stürze. Die nie zu Schmerzen führen. Jeder rappelt sich lachend auf.

  1. Zurück in Kathmandu

Bedrückend sind beim Reisen in Nepal, merke ich in Pokhara, zwei Sachen: die Unzufriedenheit der Armen und die schlechten Götter. Obwohl diese Unzufriedenheit nicht stark hervortritt, muss sie da sein, sonst würde ich es nicht spüren. Und die Götter – ich kenne sie wenig. Drum les ich daheim gleich ein Buch über Hinduismus. Demnach gab es eine Ureinwohner-Verehrung von Wesen. Und die arischen Einwanderer aus dem Norden, die alles unterbutterten, lachten drüber: „Diese Penis-Anbeter…!“ Aber es entstand ein religiöser Mix. Und weil die Inder so klug sind, kamen in den folgenden Jahrhunderten immer mehr Deuter auf die Welt, die sich in die alten Überlieferungen versenkten und 100 Seitenrichtungen gründeten.

Kathmandu vom Affentempel aus gesehen

Zurück nach Kathmandu gehts im eiskalten Bus auf endloser Staubpiste. Dann die Ankunft an einer neuen Station außerhalb. Die Touristen-Profis googeln im Handy, wo sie sind. Ich nehm einfach ein Taxi, zusammen mit einem freundlichen jungen Mann. So teuer ist es nicht und die Fahrer müssen auch was verdienen.

Ich treffe jetzt Bärbel und Toni aus Auerbach. Sie sind genau wie ich Rentner und KvN-Mitglieder. Sie machten sich wagemutig auf, mal Nepal zu sehen und ihr Patenkind zu besuchen. Sie kennen schon Südamerika und Afrika, darum wundern sie sich nicht über das Kathmandu-Gewusel und Gebrodel und Gehupe.

Nochmal zwei glückliche Enten

Uma und Utsab holen sie später nach Okhaldhunga ab. Bis dahin schlappen wir in größter Langsamkeit zu allen Sehenswürdigkeiten von Kathmandu. Weil ich mir viel von Kathmandu merken will, alles gut aufnehmen. Und zwischendurch denke ich an meine nächste Enten-Aktion. Ich studiere den Stadtplan: Wo ist der breite graue Fluss sicherer für Enten? Ich wähle eine Partie aus, die später tatsächlich gut ist: Hier blubbert der Fluss eine Zeitlang durch hohe Ufermauern. Keine Hunde.

Also gehe ich zum zweiten Geflügelhändler, den ich früher gesehen hab, als ich mich mal massiv verirrt hatte. Oben in den Käfigen sind die Enten, unten die Gänse. Sie sehen so schön aus.

Dieser Händler ist billiger: 7,30 Euro für eine Ente. Er hat eine total verhaute, schmutzige  Waage, die aber digital mitrechnet: Sie schlägt gleich aus dem Gewicht heraus den Preis vor.

Ich schau wieder zu, wie der Mann die Enten hält, zum Lernen, und wandere mit meiner Tüte zum Fluss, 1,5 km weit. Die Enten riechen unterwegs schon das Wasser, ganz aufgeregt. Dann werden sie still. Sie wissen, was kommt: Messer raus, Fesseln durch, los. Ich werfe sie in weitem Bogen aus 4 m Höhe über die Mauer. Sie fliegen perfekt und landen. Sie sind so glücklich zusammen.

1000 Rupi

Jetzt kommen die letzten Tage. Ich motiviere mich, das Einkaufen von Kunsthandwerk für unsere Adventsmärkte nicht als Last zu sehen, sondern als Freude. Und gehe am vorletzten Tag den weiten Weg zur Boudhanat-Stupa, 5 km. Ich lauf´da gern hin, weil es schöne eine buddhistische Anlage ist, mitten im hinduistischen Kathmandu. Man trifft hier viele Tibeter.  Die Frauen in ihren so sauberen, frisch gebügelten Kleidern und Schürzen, mit ihren interessanten Gesichtern.

Rund um die Stupa locken 1000 Souvenirläden. Ich setz mich irgendwo an den Rand zum Gucken und werde plötzlich von hinten angetippt: Ob ich Gurkensalat will? Es ist eine Frau mit einem klaren tibetischen Gesicht. Sie hat grad Gurkensalat gekauft und die Hälfte ist noch übrig. Ich lehne mal ab. Da ruft sie ein Mädchen und gibt ihr die Plastikschachtel. „Ich kenn hier jeden“, sagt sie.

Sie spricht gut englisch. Sie wohnt in der Nähe und lotst die Gäste der teuren Hotels her, wofür sie von den Läden etwas Kommission kriegt. Aktuell 26 000 Rupi (187 Euro). Sie wedelt mit dem Bündel herum und sagt, ich krieg 1000 davon (7,20 Euro). Als Geschenk. Das gibt ihr ein gutes Karma. Denn 2012 war sie in Holland, um zwölf Wochen lang die Dharma-Lehre zu studieren. Danach lehrte sie das ein bisschen in Berlin.  Es besagt: „Behalte nix, gib alles weiter.“

Sie wurde weit oben im Himalaya geboren, im Mustang, kurz vor Tibet.

Ihr Mann komponiert buddhistische Lieder zu Ehren seines Gurus. Ich muss mir gleich eins auf ihrem Handy anschauen. Der Ehemann sieht gut aus. Sein Guru kommt eher in bunten Bildern vor, alles voll prangender  Verehrung und Fantasie.

Ich hatte vorher auf einem Markt eine kleine Schüssel Gun Pha gekauft, aus Neugier, und schwer bereut, weil es so süß ist. Den Rest schenke ich jetzt der Frau. Sie ist hoch begeistert, weil es so nahrhaft ist, besonders für Mütter. Sie hat selbst sechs Kinder.

Viel von dem Ghun Pa  bietet sie gleich den Mädels an, die sie hier kennt. Und sie bleibt dabei: Ich krieg jetzt 1000 Rupi.

Ich weigere mich.Bin doch ein Tourist.  Aber dann denke ich: Ich könnte davon vielleicht die alte Trommel mitbezahlen, die ich gestern abend in einem Laden gesehen hab. Ganz oben im Regal, vollkommen verstaubt. Die Frau dort hatte seufzend erkannt: „Sie wollen nur diese alte Trommel, die neuen wollen Sie nicht…“

Also nehme ich die 1000 Rupi. Ich steh auf – und denke: „Sowas Egoistisches. Jetzt weiß ich, was ich mach: Ich kauf davon zwei Gänse frei.“

Am Rückweg zweifle ich, ob Gänse überhaupt schwimmen können. Muss ich mal im Internet schauen. Schwimmhäute haben sie ja. Aber dann lauf ich zufällig an einem heiligen Tempelteich vorbei, in dem zwei Gänse herumschwimmen. Aha! Ich könnte sie ja hierher bringen. Aber es ist zu weit – ich muss ja schon morgen mittag zum Flughafen.

Also stehe ich ganz bald auf und laufe zu meinem Geflügelhändler mit der Super-Waage.  Da seh ich unterwegs ganz interessant alles Mögliche: Die Teermischer mit ihrem Feuer in einem röhrenden schwarzen Ungetüm, so viel Gestank. Und die armen Männer mit einem geflochtenen Tablett auf dem Kopf,  auf dem Staubwedel liegen. Sie klingeln überall an den Türen und hoffen auf gnädige Hausfrauen. Und ich treffe den Milchmann, vier große silberne Kannen am Fahrrad. Und den Entsorger: Vier große Widderhörner hängen am Gepäckträger und ein Reissack mit Innereien am Lenker. Und ich sehe die Armen in den Blechhütten am Ufer.

Jetzt steht ein Mädchen an der Theke. Sie freut sich, dass ich die Gänse kaufe. Ihr Baby schläft vor der Theke. Dahinter ist der blutige Schlachtplatz. So wird das Kind groß.

Die Gänse sind schwerer und ein bisschen teurer. Ich bekomm sie wieder in eine Tüte gesteckt und laufe und laufe und werf´ sie über die Mauer –  perfekt. Sie landen und sind genauso glücklich wie die Enten. Friedlich schwimmen sie zusammen. Wir sollten viel mehr freikaufen.

 

Wir unterstützen auch diese Kinder

Bärbel und Toni treffen in Pokhara die kleine Nikita Paliyar, die wir auch unterstützen. Sie lebt bei ihrer Großmutter und kommt jetzt in die erste Klasse. Ich bekomme in Kathmandu den Besuch von Samrakshak, einem Jungen aus Pokhara (auch von uns unterstützt), der mit seinen Eltern und seiner Schwester nach Kathmandu gezogen war. Die Mutter und der Vater konnten dort besser Arbeit finden. Samrakshak ist ein immer lachender Junge (bloß für das Foto ist er nicht dazu zu bringen), der gerade ein kleines Problem hat: Seine Eltern mussten ausziehen und fanden nur weit außerhalb ein billiges Zimmer. Samrakshak will aber in seiner alten Schule bei den alten Freunden bleiben, was jetzt einen stundenlangen Schulweg ausmacht.

Uma endlich in Kathmandu

Als ich nach Nepal kam, schrieb Uma: Sie holt mich vom Flughafen ab. Aber es kamen Raju und Utsab. Als ich zurückfuhr von Okhaldhunga nach Kathmandu, bestand ich drauf: Jetzt fährt Uma mit,  damit sie auch mal rauskommt. Aber Raju setzte sich durch: Uma muss ja putzen und kochen fürs Dashain-Fest. Uma war geknickt.

Dann treffen Bärbel und Toni ein. Wieder wollten sich Raju und Utsab die Freude machen, sie abzuholen und Kathmandu zu sehen. Aber ich bestehe per Mail an Uma drauf: Sie braucht jetzt diese Freude. Und es klappt. Sie kommt.

Mit Bärbel und Toni sehe ich die Stadt wie zum ersten Mal, weil sie alles so bewundern. Wir schaffen es nach Bakthapur und zurück (im voll-voll-vollgestopften Uralt-Bus, beide mitten drin) und zu einer uralten kleinen Tempelstadt am Rand auf einem Hügel, Kirlitpur. Dort steht ein so schönes Mädchen in so schöner Tracht.

Bärbel und Toni spendieren mir immer irgendwas. Am Ende sogar meine Taxifahrt zum Flughafen, weil ich kein Geld mehr hab. Meine Visa-Karte scheint kaputt zu sein. Dabei liegt es nur daran, dass ich immer 20 Euro aus den Automaten ziehen will – und es müssen mindesten 50 sein. Hab ich daheim erfahren.

Menschen in Kathmandu

Gleich neben dem „Souvenir Guesthouse“ ist ein Secondhand-Buchladen. Der Mann darin ist hochgewachsen, still und bescheiden. Er ist immer schon da, seit vielen Jahren. Ich suche nach Reisebüchern und er zeigt mir ein ganz altes, schweres Buch von 1920. Darin beschreibt ein englischer Offizier, wie er Sikkim und Bhutan erlebte, ab 1890 – all die Stammesfehden, die nassen Berge und nebligen Täler. Und die oft unfähige britische Verwaltung in Indien.

Der Buchhändler freut sich so, dass ich das Buch nehme.

Beim Rückweg von der Boudhanath-Stupa gehe ich in ein kleines Restaurant zum Momo-Essen. Hinten aus der Küche kommt eine junge Frau und bringt mir Wasser. Sie ist mongolischen Ursprungs und hat so eine Liebe im Gesicht – ich bin verblüfft, dass es solche Frauen gibt, so im Irgendwo abseits. Den ganzen Abend über, beim Heimweg, bleibt mir diese Liebe im Kopf.

Ich gehe in einen Keller-Laden in der Freakstreet, wo es bunte kleine Filz-Sachen gibt. Der Mann dort ist so freundlich, ruhig und klug. Null Zureden, nix Aufdrängen. Dann schenkt ihm eine Frau vom Nachbarshop einen Beutel Walnüsse. Er schaut sie an, lacht und gibt sie mir: „Ich kann nichts damit anfangen“, sagt er, „es sind zu viele.“

Ein Freund bittet mich daheim, in Nepal nach einem Halsband-Anhänger zu suchen, wie ihn Reinhold Messner hat. Es ist ein heller, durchbohrter längsrunder Stein wie aus Marmor. Ich schau in alle Läden, nix. Dann komm ich in die Tibet-Straße auf dem Bergrücken zwischen Altstadt und Affentempel. Dort seh ich zum ersten Mal diese Steine. In einem ganz kleinen dunklen Laden mit vielen drohenden Masken und uraltem Tempel-Gerät. Der Mann darin fasziniert mich: Blaues Tibethemd, zerfurchtes dunkles Gesicht, europäische Züge, schmal und sehnig. Er ist wie ein Intellektueller. Vielleicht ein Nachfahre der Atlantis-Auswanderer, wie sie Andreas Delor in seinen Atlantis-Bänden beschreibt, die er mit der Hilfe von drei hellsichtigen Frauen zu neuen Erkenntnissen brachte. Dieser Mann zieht solch einen Stein aus einer schmudddeligen Schublade, wo eine Handvoll wild drinliegt: „50 Euro.“ Ich bin platt – jeder Stein 50 Euro? Viel zu teuer. Nicht zu teuer, sagt er. Das ist Stein, kein Plastik aus China. „Was Sie unten in den Läden sehen, ist alles Plastik.“

Mein „Souvenir Guesthouse“ liegt am Rand von Thamel, dem Touristenviertel. 200 Meter weiter braust eine große Straße vorbei. Immer Verkehr. Der Gehsteig dort ist schmal und drangeklemmt ein Obstladen. Der Vater steht hoch oben zwischen Bergen von Orangen und Mangos und seine beiden Söhne, um die 10 Jahre alt, helfen unten. Sobald die Schule aus ist, stehen sie hier im Abgas und ermutigen Kunden, mehr zu kaufen – Unbekanntes, auch wenn es sofort in der Hand zerfällt – „das ist süß! Sehr gut! Probieren Sie!“ Diese Jungs sind so begeistert, wenn ich komme. Nicht wegen meines Einkaufs, sondern aus Freundschaft. Es sind kleine große Freunde.

Kathmandu hat alte Straßen nur mit Hochzeits-Schmuck, nur mit Schuhen, nur mit Küchensachen, nur mit Herrenkleidung, nur mit Badezimmern, nur mit Lampen. Es gibt in den Kellern neben den uralten Basargassen sogar hochmoderne Innen-Malls nur mit Handy-Shops. Und es gibt abseits einen einfachen alten Mann, der auf zwei Rädern eine rostige Zuckerrohrpresse durch die stillen Wohnwege zieht. Er ist der einzige, der auch eine halbe Limette mitpresst, was einen super Geschmack gibt. Dieser Mann kommt vom Land, vielleicht 65 Jahre alt. Kein Englisch. Er bleibt mir wegen seiner Bescheidenheit und seines guten Charakters immer in Erinnerung.

Im Süden der Freakstreet, wo kein Tourist hingeht, überhole ich einen Jungen, vielleicht 12, der Luftballons verkauft. Er streckt mir das Bündel hin: Kaufe! Ich denke, ich brauch doch keine Ballons. Er sagt mit einem tiefen Flehen in seiner Stimme: „Please, Sir!“ Ich beschleunige. Und denke später: Warum? Warum höre ich nicht auf dieses Flehen? – Ich komm dann drauf, nach langem Nachdenken, dass ich als Kind dasselbe Flehen in mir hatte, einen hilflosen Schrei gegenüber meinem brutalen Vater. Deswegen konnte ich das „Please, Sir!“ nicht aushalten, diese Erinnerung, und ging weiter. – Seitdem kaufe ich Kindern etwas ab, auch wenn ich es nicht brauche.

Ende

(von Thomas Knauber)

 

Diese drei Bilder schickte Shanta – sie zeigen, wie groß der Abstand ist zwischen einem Landleben in der Nähe von Okhkadhunga und unserem deutschen Leben.