Thomas Knauber besucht jedes Jahr die Dörfer, wo „Kinder von Nepal“ hilft. Sehr aufschlussreich ist sein Bericht aus dem Jahr 2017:
Nach einer kurzen Zeit in Kathmandu fuhren Kul – der Quasi-Bürgermeister von Angpang – und ich nach Angpang, blieben aber nicht, weil Kul eine Wanderung zum Everest-Basecamp ausgedacht hatte. Er zwickte sie so in seinen Terminplan, dass er schnell noch kandidieren konnte für die Wahl ins erste Bezirksparlament Nepals. „Ich werde zu 98 Prozent gewählt“, sagte er. „Brauch gar nicht anwesend zu sein oder Wahlkampf zu machen. Jeder weiß, was ich für unser Dorf tue.“
Die Wahl wurde dann glücklicherweise für seinen Distrikt Solu-Khumbu um vier Wochen verschoben, auf Mitte Juni. So konnten wir bei der Rückkehr nach Angpang entspannt noch einmal aufbrechen zu Schulen, die in der Nähe Hilfe brauchen: in Maidane (bekannt durch die Aufbauarbeit des Hamburger Vereins „Kinder von Okhaldhunga“), in Patle (auf einer windumwehten Bergspitze), in Merending (im Wald gegenüber von Angpang, auf einem Hügel) und in Bagam (gesprochen Bakum). Es liegt neben Kerung, einer größeren Siedlung bei Angpang. Kul: „Crazy Kerung.“ Weil die Leute dort jüngst ein Projekt, das ihnen nützen konnte, ablehnten.
Daneben spornten wir viele Müttergruppen (18) an, sich Projekte auszudenken, die wir bezahlen können.
Ich bat auch um eine Aussprache mit den Müttergruppen von Angpang; mit den Frauen der stagnierenden Weberei-Gruppe; und mit dem Leiter der florierenden Spar- und Kredit-Selbsthilfe, Durga.
Ich interviewte zudem drei alte Männer des Dorfes und die aktivste Frau.
Durga bittet darum, dass möglichst viele von uns einmal nach Angpang kommen, um den Aufschwung zu sehen. Er ist dankbarst um unsere Hilfe und will das neue Marktzentrum, in dem sein Büro ist, nach mir benennen. Hab ich aber verboten. Bescheidenheit ist wichtig, hab ich gesagt, keine große Show. Und außerdem ich bin bloß der Überbringer der Spenden.
Zuvor hatte ich in Kathmandu per Zufall den Chef der „Nepali Congress Partei“ getroffen, mit seinem Sozialreferenten, der Projekte in abgelegenen Gebieten durchsetzen will. Ich dachte, vielleicht können wir auch dort irgendwo helfen. Aber beim Empfang für mich im Schulhof von Angpang ein paar Tage später wurde mir bewusst: Hier bei Angpang helfen, nicht verzetteln.
In den 14 Tagen am Schluss, wo ich im Dorf still leben konnte und mit den Kindern spielen, Hochzeiten und Erntefest erleben, lernte ich die Menschen noch einmal gut kennen. Und lernte auch über mich.
Am Ende besuchten Kul und ich das Geschäft einer Frauenrechts-Bewegung in Kathmandu (sehr interessante Diskussion) und eine Weberei-Fabrik in Bhaktapur, 15 km entfernt. Auch dort war es sehr aufschlussreich. Kul versuchte beide Male, die Stoffe seiner Weberei-Frauen unterzubringen. Vielleicht klappt es noch. Ich dachte, eines der spielenden Kinder von Angpang, Bipan, wäre als Gründer einer Angpang-Webfabrik geeignet. Er ist ein erstaunlich fähiger Künstler und gleichzeitig ein entschiedener Denker, obwohl er erst zwölf Jahre alt ist. Auch ein super Sportler. Kul hat ihn beobachtet: „Er ist eigentlich der Chef der Familie.“
Für die Webfrauen entwarf ich zehn Schal-Designs, die sich bei uns besser verkaufen lassen als die traditionellen Muster. Einen solchen Designschal webte eine Frau in einer Nacht durchgehend, damit ich ihn mitnehmen konnte. Danach schlief sie erschöpft ein. Dieser Schal ist sehr schön geworden. Die anderen Designs folgen.
Folgende Unterstützungswünsche bekam ich mit auf den Weg:
Angpang:
Wir sollen das Gehalt auch eines vierten Lehrers übernehmen (4000 Euro im Jahr; bisher bezahlen wir drei Lehrer und einen Verwalter des Gesundheitsstation, weiter Zuschüsse an Kinder armer Familien sowie die Schuluniformen; außerdem fürs Kuls Sohn Ashok die Ingenieursausbildung (1200 Euro heuer)). Die Gehälter aller Lehrer variieren so, dass eine geringe Summe sinnvoll ist, um alle auf den gleichen Stand zu bringen. Einen Beamer stiften. Pfosten für das Stromkabel.
Die Save & Credit AG braucht dringend mehr Geld, um Kleinkredite auszahlen zu können (10 000 Euro; diese Summe will die S&C später zurückzahlen). Das Dach ihres Marktgebäudes fehlt, weil zwar ein kleiner Staatszuschuss kam, aber nicht reicht (7000 Euro).
Meranding:
Drei arme Kinder bräuchten je 130 Euro jährlich als Unterstützung. Ein Lehrergehalt wird gewünscht. (In Nepal übernimmt die Regierung nur die Hälfte der Lehrer, für die andere Hälfte muss der Schulleiter bei den armen Bauern betteln oder ausländische Sponsoren finden).
Maidane:
Die Gehälter von zwei Lehrtern tragen wir schon. Aber der Schulhelfer sollte dringend besser bezahlt werden. Die Klassenzimmer könnte man nach und nach innen mit Holz verkleiden. Bisher ist da nur unverputztes Mauerwerk. Der Science-Lehrer bräuchte Objekte für den Wissenschaftsunterricht. Die übrigen Lehrer wünschen sich einen Laptop mit Drucker, ein neues Harmonium, eine Gitarre, einen Soundtrack (CD-Anlage) und einen Beamer, der erlaubt, Filme vom Smartphone an die Wand zu projizieren.
Patle:
Eine Gesundheitsstation fehlt (ich spreche die deutsche Nepalmed eV darauf an). Fünf arme Kinder brauchen einen Zuschuss von je 130 Euro. Zwei Lehrergehälter müssten übernommen werden.
Bagam:
Sechs arme Kinder bräuchten einen Zuschuss. Die Gesundheitsstation fehlt. Ein Lehrergehalt wäre ideal. Drei uralte Zimmer neu zu bauen kostet 20 000 Euro.
Müttergruppen:
die 18 angesprochenen könnten Geld brauchen für Ziegenkauf, für Gemüseanbau (Gewächshaus), für Pilzzucht (dunkler Gewächstunnel).
Kul fand noch vier Jugendliche, die Unterstützung brauchen wegen Augenproblemen oder wegen eines tragischen Jeep-Unfalls. Er entdeckte auch eine bewundernswerte junge Frau, die wegen eines angeborenen Hüftschadens nicht laufen kann, nur kriechen. Auch bei ihr geht es um die Ausbildung. Sie ist in Facebook. Eventuell können sich die Kinder eines Gymnasiums in Norddeutschland besonders um sie kümmern.
2.
Jetzt hab ich lange überlegt, wie fange ich meinen Reisebericht an. So: In Kathmandu gibt es am Rand des Touristenviertels einen Secondhand-Buchladen. Der Inhaber ist ein freundlicher schmaler Mann, ganz hoch gewachsen, mit Mundschutz unter der Nase. „Es gibt fast keinen mehr, der Bücher liest“, klagt er. „Auch die Touristen nicht mehr. Und sie kommen bloß im Oktober und November nach Nepal, im März und April. Wenn Sie mich das nächste Mal nicht mehr hier finden, bin ich auf die Hauptstraße gezogen, in die Nähe der Schule. Die Schüler sind die einzigen, die noch zu mir kommen.“
Er hat die Hälfte seiner 2000 Bücher in Plastiktüten gesteckt, weil der Staub des Feldwegs vor der Tür alles hellbeige belegt. Ich finde ein Tibet-Buch von Patrick French, auf dem steht, dass es „das“ Buch über Tibet ist, weil er dort wanderte. Und mit den Leuten sprach. French wuchs in England in einem katholischen Internat auf, voll herber Priester, und beschloss: ,Weg vom Katholizismus, und ja keinen Bürojob, sondern ich schlage mich so durch.‘ Er kniete sich als Autor in seine Themen – den Himalaya-Reisenden Francis Younghusband, Indien, eine hochgelobte Biographie zu V. S. Naipaul – und traf in Tibet einen alten Mann, der 18 Jahre in einem mörderischen Gefängnis gewesen war, nur weil er nach Indien gereist war, um seine dort in die Sicherheit geflüchtete Frau zu suchen.
Wieder daheim, fand ich auf dem Flohmarkt „Traumpfade“ von Bruce Chatwin, ein super Buch. Chatwin, ein nie lachender, ewiger Reisender, setzt sich darin auf die Spur der australischen Ureinwohner, zitiert aber auch aus seinen Tagebüchern von Afrika- und China-Reisen. In China traf er einen Mann, der wegen seiner Liebe zur klassischen deutschen Musik jahrelang im Gefängnis saß.
Diese beiden Beispiele zeigen, wie gut es mir geht: Ich kann frei denken und frei reisen. Ich habe das Geld und die Gesundheit, nach Angpang zu kommen und dort im Klassenzimmer zu stehen, um über Deutschland zu sprechen. Vor den Siebtklässlern erzähle ich von zwei Menschen, die ich kenne: Von einer Waldorfschul-Lehrerin und einem Bio-Bauern. Das mit der Waldorfschule sage ich extra für den jungen Englischlehrer, damit er andere Wege von Unterricht kennenlernt.
In der Nacht darauf träume ich von einem der Mädchen, das zugehört hat. Es ist ein nepalesischer Traum: Karg, holperiges Nichts, rau. Daraus löst sich ein weißer Fleck und kommt auf mich zu. Gedeutet heißt das: „Wir leiden hier unter der Einfachheit des Landes. Uns bedrückt diese Kargheit, das Nicht-Schöne, Nicht-Freie. Gib uns Licht, Wissen.“
Meine Reise begann in München auf dem Konsulat, um das Visum für die acht Wochen zu bekommen. Es ist in der Kanzlei eines alten, freundlichen Rechtsanwalts. Er hat weiße Haare, lächelt, und sagt verträumt: „1965 war ich das erste Mal in Nepal. Da war es noch ganz anders.“
Ich war vor zehn Jahren das erste Mal dort, mit Wolfgang. Wir sahen bei der Everest-Wanderung ein einziges mutiges Mädchen, Yaks hütend, das schon Leggins anhatte. Heute sind Leggins üblich. Jedes Haus hat plötzlich Fernsehen und die Werbung zeigt nur westlich gestylte Mädchen. Entsprechend stehen bei einer Hochzeitsfeier im Nachbardorf von Angpang fünf Freundinnen (alle ca 16 Jahre alt) für sich in der Menge bunter Saris und schwarzer glänzender Haarpracht, die a) braun gefärbte Haare haben, b) westliche Kleidung, c) helle Haut: Nix mehr Sonne, nix mehr Feldarbeit, sondern absichtlich im Zimmer bleiben, um dem Reklame-Ideal nahe zu kommen.
Angpang hatte vor zehn Jahren drei blaue Zinkdächer, zwei Häuser mit Glasscheiben (alle anderen hatten Plastikfolie oder nichts im Fenster) und abends 20 Minuten Strom für eine Glühbirne. Jetzt gibt es überall blaue Zinkdächer, überall Glas und die Wasserkraft bringt so viel Strom, dass jeder ein Hoflicht hat, das die ganze Nacht brennt. Rudra, der Nachbar von Kul, schätzt, dass es zwischen 25 und 30 Laptops in den Häusern der 84 Familien gibt.
Er kaufte sich einen Flachbildfernseher, der oft bis Mitternacht läuft. Für Wrestling aus den USA, für Reklame für Fanta und teure Schulen in Kathmandu und für Smartphones. Entsprechend müde sind seine zwei Jungs jeden Tag.
Kul schimpft auf den Modernismus, den Kleiderwandel. Aber ich kam nach langem Beobachten drauf: Die Jugendlichen kopieren nicht aus Jux, sondern weil sie damit Freiheit verbinden. Sie wollen frei sein von der Enge des Hinduismus.
3.
Als ich in Kathmandu aus dem Flughafen kam und ins Meer der Taxis trat, begann das Kämpfen der Fahrer um mich. Aber ein Fahrer nahm sich die Zeit, zu lächeln und zu mir schnell die Verbeugung des Namaste (Grüß Gott) zu machen, obwohl er verloren hatte: Kul hatte sich schon für ein anderes Auto entschieden. So freundlich ist Nepal.
Ich fragte Kul zuerst nach Madan Lama, den jungen Mann, der nach dem Erdbeben – es tötete die Eltern – für seine Geschwister, für die Oma und den behinderten Onkel sorgen musste. Unser Verein hatte 2000 Euro gegeben, weil er einen Souvenirshop aufmachen wollte, am Weg zum heiligen Berg mit dem Affentempel.
Kul hatte ihn zweimal in dem neuen Laden besucht und gesehen, wie er Rosenkranzkugeln auffädelte, um die Schnüre zu verkaufen. Aber beim dritten Mal war er verschwunden und der Laden leer. „Das war mein größter Fehler“, sagte Kul geknickt, „ihm das ganze Geld auf einmal gegeben zu haben. Wahrscheinlich hat er sich ein Motorrad gekauft.“
Das Erdbeben war, im Nachhinein gesehen, für Teile Nepals ein Segen. Überall dort, wo keiner umkam. Denn es zerstörte eh Brüchiges, und die so kreativen Nepalesen bauten neue fantasievolle Häuser. Außerdem haben die Zimmerer und Maurer Hochkonjunktur.
Aber Kul brachte mir in Kathmandu einen Zeitungsbericht, der ihn aufregte. Denn dort sagte der Leiter der Nationalbank, dass die Regierung eigentlich keine Erdbebenzuschüsse mehr geben muss, weil ja alles zwei Jahre her ist und keiner mehr danach ruft. Kul: „Bisher kam nichts! Und jetzt wollen sie alles streichen. Unmöglich.“
Doch am Ende meiner Reise kam die Radionachricht: Jeder betroffene Haushalt bekommt 500 Euro, wenn er nicht höher als 13 Fuß neu gebaut hat, und getreu den Erdbeben-Empfehlungen: Unten Steingeschoss, oben Holzgeschoss. Kul war nervös. Denn er und Rudra und sein Freund Durga hatten als einzige im Dorf komplett aus Betonstreben und Stein gebaut, und zwar höher als 13 Fuß. „Wir müssen uns trotzdem in das Förderprogramm drücken. Für das nächste Erdbeben. Sonst bekommen wir nie mehr was.“
Das Holzgeschoss löste eine Holzknappheit aus. Rudra und Kul setzten deshalb in zwei Nächten Stirnlampen auf und gingen Holz stehlen. D. h. sie hatten geheim Bretter sägen lassen, im nächsten Dorf, und holten die jetzt her. Weil das Holzkontingent von Angpang erschöpft ist.
In Salleri, der Kreisstadt, gibt es ein Forstamt mit genau beobachtenden Forstleuten. Ein Mann, der mit dem Holzhandel Schmuh machte und davon erzählte, sitzt jetzt im Gefängnis.
So ist der Vorhimalaya, der so dörflich unberührt und unregiert aussieht, voll im Griff von Gesetz und Disziplin. Es gibt Gerichte und Rechtsanwälte, Ämter und Polizei.
Das Erdbeben machte Kathmandu auch klar, wie verzögert die Ministerien reagierten, wie spät ihre schwache Hilfe in die entlegenen Ecken kam. Deshalb beschloss man, die Macht nach unten abzugeben. Es wurden neue Lokalparlamente gebildet. Als Kandidat der „Nepali Congress Partei“ bat man Kul ins Rennen. Auch Durga wäre bereit gewesen. Kul weiß um seine Chancen, denn die Kandidat(inn)en der Niedrig-Kasten und der Frauenrechte haben keine Chance. Und den Maoisten-Mann sticht er sowieso aus.
Dieser Maoist lebt auch in Angpang. Sein Jeep parkte lange an einem Feldweg, Fenster halb offen. Regen kam, Sturm, Gewitter, Regengüsse. Das Fenster war weiter offen. Bei jedem anderen hätte Kul längst angerufen und gesagt: „Hast dein Fenster offen gelassen.“ Aber bei ihm nicht. „Ich verstehe nicht, wie jemand Maoist sein kann. 14 000 Tote im Bürgerkrieg, den sie angezettelt haben. Wie kann man seine Ziele mit Toten erkaufen?“
2006 endete dieser Krieg nach zwölf Jahren. Die Maoisten rückten in die Legalität und kamen an die Regierung. Aber sie wurden so korrupt wie jene, die sie kritisierten. Die armen Nepalesen waren zutiefst enttäuscht.
Wir trafen später unterwegs in den Bergen zwei Engländer, die in Kathmandu unterrichten, ein Ehepaar. Er sagte: „Die Politik in Nepal erscheint einfach. Aber sie ist ganz kompliziert, weil so viele mitmischen. Und jeder von ihnen will nur sein Geld machen.“
4.
Ich dachte immer, viele Nepalesen arbeiten in den Golfstaaten. „Nein“, sagte Kul, „höchstens ein Prozent. Nepalesen sind überall, in der ganzen Welt, in Südkorea, Japan, Malaysia, Thailand, Norwegen, Mexico, USA, Kanada.“ Dort schuften sie sich zu Tode, weil sie so viel Geld wie möglich nachhause schicken wollen.
Der älteste Sohn Kuls ist in den Golfstaaten – vom Vater dorthin versteckt vor den Kommunisten, die ihn in ihre Armee pressen wollten. Eine Tochter ist in Japan, ermöglicht durch ein US-Aid-Praktikum in Kathmandu und ihren Ehrgeiz: Sie bekam ein Japan-Buch von Kul, lernte daraus wie verrückt und schaffte das US-Auswahlverfahren für einen Aufenthalt in Japan. Jetzt hat sie dort drei Jobs (Teeladen, Hotel, Restaurant), schickt Geld heim und bunte Selfies per Facebook. „In sechs Jahren kommt sie vielleicht wieder“, sagt Kul, „mit viel Gespartem. Dann kann sie in Kathmandu einen Laden aufmachen.“
Kul: „Ich war zweimal in der Schweiz. (es war vor 20 Jahren, eingeladen von Trekkingkunden) Ich weiß, im Ausland arbeitet man hart.“
Er beobachtet zwei Fraktionen in Angpang: die Fleißigen und die Bequemen. Die Bequemen haben zwei Tage lang Jobs am Bau, können sich davon 50 kg Reis kaufen und genießen ihr Leben, bis er verbraucht ist.
Es gibt auch Jungs, die Bäume anpflanzen, deren Früchte die begehrten, sauteuren Kugeln für Rosenkranzketten hergeben. „Zwei Monate lang verkaufen sie diese Kugeln in Kathmandu, den Rest vom Jahr verbringen sie locker irgendwo“, sagt Kul. „Diese beiden Fraktionen zu verbinden, das ist schwer.“
Er selbst arbeitet hart (um 4.30 Uhr steht er auf und stapft mit der Stirnlampe aufs Feld). Das vergangene Jahr war das härteste in seinem Leben, weil er ab September sein altes Haus abbrach und neu baute. Zement schleppen, Balken sägen, Steine schlichten.
Dafür gibt es auch Maurer und Zimmerer. Aber zu viele. Denn jeder geht in diese Berufe. „Um anders weiterzukommen, ist in dieser technischen Zeit Bildung wichtig“, sagt Kul. Er will, dass jedes Kind bis zur 12. Klasse in die Schule geht. Doch bei ihren Eltern redet er oft gegen Wände. „Aber nicht mal das ist eine Garantie für Arbeit. Wer noch ins College geht, hat immerhin einen Regierungsjob, wenn er gut ist. Aber die Eltern hier helfen zu wenig dazu. Ich muss so viel aufklären und reden, weil der bisherige Abschluss nach der achten Klasse, der SLC, nichts mehr wert ist.“
Die Regierung könnte sogar neue Schularten ausdenken. „Dann ist auch die zwölfte Klasse nichts mehr wert. Darauf muss man vorbereitet sein.“
5.
In Kathmandu gab es eine Revolution: Viele Bürger opfern seit 200 Wochen ihren Sonntag ( = der Samstag in Nepal) und säubern die zwei Flüsse vom Müll. Madan, der Eigentümer des kleinen, so malerisch begrünten Souvenir-Guesthouse am Rand des Touristenviertels Thamel, sagt: „Haben Sie nicht bemerkt, wie sauber der Fluss ist, als Sie im Viertel Teku herumliefen?“
Später in den Bergen, am Tag nach dem nepalesischen Neujahr (es ist am 13./14. April) sagt Kul am Morgen zu mir: „Hast du die Veränderung bemerkt?“ Sag ich: „Nö. Welche?“ „Ich rauch‘ nicht mehr.“ Darauf hat er tagelang hingearbeitet, von mir angetrieben. Jeden Tag eine Zigarette weniger. Dann kaufte er in Namche Basar, dem Hauptort vor den oberen Everest-Pfaden, tibetischen Rauchkäse, knallharte kleine Stücke. Die sind jetzt sein Zigarettenersatz. Weil sie rauchigen Geschmack haben. „Meine letzten Zigaretten hab ich den Portern (Trägern) geschenkt.“
So ändert sich Nepal.
Kul hatte nie zuvor berechnet, wie viel ihn das Rauchen kostet. Jetzt kam er drauf: 24 Euro im Monat, knapp 300 im Jahr. Das sind Unsummen für einen Nepalesen.
Vielleicht ändert sich auch im Hinduismus etwas. Er gilt als schlechte Religion. Er hält auch keinen Nepalesen von rücksichtloser Geschäftstüchtigkeit ab oder die Priester von blutigen Tieropfern und von der Vergewaltigung der Natur. Zum Beispiel die mächtigen Feigenbäume auf heiligen Plätzen, manchmal mit einem kleinen Schrein verbunden: Sie werden bis auf einen Meter Höhe eingemauert, was sie sehr negativ macht – aber drüber als Ausgleich alles sehr positiv. Setzt man sich aufs Betonpodest am Stamm, hat man was davon. Aber der Baum nicht. Sein freier Wuchs, seine Himmelsöffnung sind gestört.
Auf besonders positive Plätze kommt immer ein Pagodentempel. Er fängt die gute Kraft, die hochsteigt, ab. Sein geschwungenes Dach lenkt sie sofort um: Ab damit ins Umfeld des Tempels, der Himmel kann warten (eigentlich bräuchte er diese Kraft. Aber wir machen es mit unseren Kirchen genauso: sie bunkern die gute Erdabstrahlung).
Oder die Kumari, die lebende Göttin. Bücher berichten, warum das Mädchen in den Spezialtempel mitten in Kathmandu gesperrt wird. Damit ein Erdwesen, das an sich still in der Erde lebt, dessen Lebenskraft eintankt. Es hängt sich an seinen Nacken. Das Mädchen kommt deshalb nach ein paar Jahren ausgelaugt zurück zur Familie. Aber die Priester (hinduistische und buddhistische arbeiten zusammen) haben ihren Nutzen. Denn sie erkunden von dem aufgepowerten Erdwesen ein weitblickendes Wissen.
6.
Wir treffen Geeta, eine Newari-Frau (es ist ein anderer Volksstamm als die Magar von Kul; Nepal hat über 120 Völker und Kleinstvölker). Sie betreut seit einigen Jahren die Ausbildung von Schülern aus Maidane, einem Ort nicht weit von Angpang – wenn die Jugendlichen außerhalb von diesem Dorf in die Lehre oder ins College gehen (in Maidane hat der Hamburger Verein „Kinder von Okhaldhunga“ aus dem Nichts ein Schulzentrum aufgebaut). Auch vier Jugendliche aus Angpang sind momentan bei den 68 Maidane-Betreuten.
Geeta ist älter, schlank, klug. Sie hat noch andere ähnliche Betreuungen, zum Beispiel für Deutsche aus Oldenburg, die ihr vertrauen. Und sie baut nach dem Erdbeben einen Kindergarten und eine Grundschule neu mit auf. Außerdem hilft sie neun Dorffrauen, mit Webstoffen und Nähen ein Einkommen zu erwirtschaften. „Da bin ich stolz drauf.“
Geeta: „Ich sage allen Kindern, dass sie kämpfen müssen für ihre Zukunft. Bisher war das SLC (Secondary School Learning Certificate nach der 8. Klasse) schwer zu erreichen, nur 22 % schafften es und kamen in Fortbildungen. Jetzt bekommt jeder das SLC. Aber ich sage jedem Jugendlichen: Du musst beitragen zu deiner Ausbildung, zum Beispiel ein eigenes Konto eröffnen. Wir geben die keine Tasse Tee, sondern zeigen dir, wie man Tee aufgießt.“
Wer einen technischen Beruf will, muss teuer für die dreijährige Ausbildung bezahlen. Andere Richtungen können sechs Jahre dauern. „Alles geht langsam in Nepal.“
Kul regte für Maidane an, auf die bestehenden zehn Klassen zwei Praxisklassen zu setzen (10 +2). Dafür muss er bei der Regierung einen Antrag stellen, dann auf das Ergebnis der Wahlen warten, teures Erlaubnis-Geld bezahlen, und hoffen. Diese Zusatzjahre sollen Berufe im „human“ Bereich bieten, die keine Maschinen für die Ausbildung benötigen. Zum Beispiel für Hebammen oder Krankenschwestern und für Sozialarbeit. Auch Kinder aus Angpang könnten für die 9. bis 12. ( = 10 + 2) Klasse nach Maidane gehen.
Kul: „Was uns jene Jugendlichen an Vereinszuschuss sparen, wenn sie nicht in Kathmandu oder in der Kreisstadt ausgebildet werden, sondern in Maidane, können wir ja für Lehrergehälter ausgeben. Wir brauchen zwei Lehrer mehr für das 10+2.“
Abends sind wir bei Harka (sprich: Horka, weil ein innen stehendes „a“ immer ein „o“ ist) eingeladen. Seine Frau ist Kuls jüngste Schwester. Sie ist sehr klug, muss aber weitgehend schweigen. Kul reagiert auch nicht auf sie und spricht nicht mit ihr. Er behandelt sie macho-mäßig wie eine Fremde.
Ich sag extra: „Nehm einmal an, sie ist dein wiedergeborener Großvater. Und du lässt ihn so links liegen!“ Seinen Großvater schätzt er nämlich sehr.
Harka hat ein einziges Fotobuch in dem fast leeren Wohnzimmer stehen, das ihm Uli Friebel zusammenstellte, mit Bildern von gemeinsamen Trekkings. Uli Friebel war in Deutschland für die Auslands-Aktivitäten des Bund Naturschutz tätig. Jahrzehntelang brachte er Harka und Kul die Kunden für Wanderungen auch in gefährliche Bergregionen. Ein Foto in dem selbst gemachten Band zeigt Kul mit 25 Jahren: einen strahlenden jungen Mann, der dauernd lacht.
Aber Uli Friebel starb vor wenigen Tagen. Er war in Deutschland auf einem Markt gewesen und nach dem Einkaufen wegen Herzversagens zusammengebrochen. Die Nachricht löste bei den nepalesischen Familien stumme Betroffenheit aus. „Uli schaffte es nach dem Erdbeben, eine so große Summe für das Langtang-Gebiet zu sammeln“, sagte Kul. „Er brachte die 200 000 Euro selber her.“
Sein Tod nimmt Harka jetzt sichere Trekking-Einnahmen. Zum Glück hat er aber regelmäßige Zahlungen des Vereins „Kinder in Okhaldhunga“, weil er, der nie lesen oder schreiben lernen konnte, in 25 Jahren das Schulzentrum von Maidane so gut begleitete. Kul staunte, wie er der Regierung drei Lehrer abknöpfte in einer Zeit, als andere Schulen keinen einzigen auftreiben konnten. Dann noch einmal drei. „Er hat so gute Beziehungen. Und er setzt sich durch. Er kämpft und gibt nicht nach, bis er etwas erreicht hat, egal wie oft sie ihn in den Ämtern vor die Tür setzen.“ Auch die 10+2-Erlaubnis könnte der jetzige Vorsitzende des Schulkomitees von Maidane nicht erreichen, sagt Kul, aber Harka.
7.
Nicht nur Kul staunt in Kathmandu, wie die Läden im Touristenviertel Thamel überleben. Die Touristen sind nur vier Monate im Jahr da und können unmöglich die ca 1500 verschiedenen Kunsthandwerk-Artikel in Hunderten von Geschäften kaufen oder die endlos bestückten Trekking-Läden beglücken. Ein kleiner Laden braucht 500 Euro Monatsmiete. Will sich jemand neu einen Laden sichern, muss er eine Million Rupi Ablöse aufbringen (10 000 Euro).
Kul hat einen Freund, der seinen Verdienst aus den Golfstaaten in ein kleines Restaurant in Thamel investierte. Danach kaufte er ein Schotterwerk und begann im Straßenbau. Dort handelte er aber rücksichtslos. Seine Straßenführung ging quer übers Land, ohne Dörfer anzubinden, die dringend den Buskontakt gebraucht hätten. Auch auf Naturschutz achtete er nicht. Außerdem schummelte er bei den Mörtelmischungen. Geldstrafen dafür akzeptierte er, auch kurze Gefängniszeiten. Kul kritisierte das öffentlich. Dann traf er einen Vertreter der Asia-Bank, die den Straßenbau mitfinanzierte. Der sagte: „Aha, Sie sind der Kritiker!“ Kul sagte ihm sofort nochmal die Meinung.
„Jeder weiß, dass ich stark meckere, aber ich kann das, weil ich anpacke. Ich bin kein leerer Redner.“ Kul erwartet auch, dass jeder etwas zum Dorfwohl beiträgt, durch Arbeitsdienste (bei der neuen Schule waren sie nötig) oder mit Holzspenden.
Auch für Maidane, für das teure 10+2-System, könnten Schulabgänger von früher mitbezahlen: „Es gibt gut verdienende Abgänger, die jetzt in Japan sind. Die könnten ihre vier Jahre Ausbildung zurück bezahlen.“
Für das neue Lokalparlament wurden die alten Dorf-Entwicklungs-Komitees aufgelöst. Man schloss Bereiche zusammen, zum Beispiel drei Dörfer. Und Kul wird, wenn gewählt, zwei Assistenten bekommen. Sein erster Akt: Müll aufheben lassen und Müll vermeiden. Keine Plastikflaschen mehr. Außerdem zwei Klo-Gruben an jedes Haus. Ist eine voll, kann man den Inhalt zum Düngen nehmen. Und einen Garten an jedes Haus. Außerdem soll jedes neue Haus 15 m von den Straßen entfernt stehen, damit kein Theater entsteht, wenn die Straße einmal verbreitert wird.
Ich bat ihn auch, etwas für die vollkommen überlasteten Träger in den Bergen zu tun. Die Männer schleppen mit oft schmerzverzerrtem Gesicht 60 bis 100 Kilogramm. Denn die Grenze von 30 kg gilt nur für Trekking-Gepäck. Ihre Lasten für die Geschäftsleute sind ohne Limit.
An der Strecke nach Namche Basar hinauf gibt es Beamte, die den Permit-Stempel der Touristen kontrollieren. Sie könnten genausogut die Lasten der Träger wiegen.
Leicht wird es nicht für Kul, zu regieren. Denn zu seinem Verbund werden die Chetri der Dörfer im Westen kommen. Diese hohe Kaste (Krieger) ist klug. Sich gegen sie durchzusetzen, ist für die Magar, Gurung und Sherpa schwer.
Nepal hat zwar Ruhe in seinem Vielvölkerstaat, aber intern schimpft jedes Volk über das andere: „Die Newari können nie genug bekommen.“ „Die Brahmin schnappen den Sherpa das Trekkinggeschäft weg.“ „Die Rai haben sich clever vom simplen Bauern zum Träger und Geschäftsmann entwickelt.“
Kul: „Man darf nie jedem Volk eigenes Land zum Regieren geben. Dann gibt es Bürgerkrieg. Das Terai (Flachland bei Indien) will zum Beispiel unabhängig sein. Okay, wir brauchen deren Reis nicht, wir haben Kartoffeln. Aber die haben eh schon Sonderrechte. Sie dürfen z. B. pro Familie so viel Land besitzen wie niemand, 250 acres, dreimal so viel wie wir (75) und zehnmal so viel wie jemand in Kathmandu. Der in Kathmandu hat noch den Vorteil: Verkauft er einen einzigen Quadratmeter, kann er sich sein Leben lang Hose, Hemd und Essen leisten.“
Ich notiere mir in mein Heft: „Ich muss nicht nur Geld geben in Nepal, sondern auch Mitgefühl. Und etwas tun. Nicht bloß als Tourist alles genießen.“
Als Tourist gehe ich einen teuren Bergsportladen und kaufe eine – immerhin reduzierte – Windjacke von Marmot, weil meine alte nach elf Jahren den Regen durchlässt. 80 Euro. Beim Rausgehen denke ich, welch ein hoher Betrag das hier für eine arme Mutter ist. Und finde etwas Trost im Denken an reiche Nepalesen, die prachtvolle Villen bauen und mit Jeeps rumfahren, und auch was für ihre armen Landsleute tun könnten.
500 Meter von meinem Guesthouse entfernt ist der Luxus-Park „Kaisers Garden“, ein Mini-Versailles. Für 1,80 Euro Eintritt steht man in der Welt der Reichen, in einem alten Palastgarten voller Schönheit, Ruhe und Adel. So hatte Kathmandu schon immer beides, Luxus und Bettler.
Über den Hintergrund dieses Palastes eines alten Feldmarschalls namens Kaiser erfährt man mehr im Buch „Tiger for Breakfast“ von Michel Peissel. Der Engländer kam kurz nach der Öffnung des verschlossenen Reiches (1950) nach Kathmandu. Seine Biographie eines Russen, der sein schillerndes Leben als erster Hotelier der Stadt beschloss, packt unzählige Anekdoten auch aus Indien zusammen. Sie geben mehr Geschichte mit als dicke Geschichtsbücher. Gut geschrieben.
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Kul erzählt von Angpang. Ich bin froh, selber in einem Dorf groß geworden zu sein und so sein Dorf gut zu verstehen. Er berichtet von Israelis, die anreisten, um eine Kreditbank einzuführen und bessere Landwirtschaft. Aber es kam zu einer Rauferei von drei Männern. Alles platzte. Kul: „Gottseidank, weil die Israelis den Profit aus dem Projekt behalten wollten.“
Er lobt dagegen den British Welfare Service (BWS), der aber nur dann in die Dörfer kommt, wenn einer der Ex-British-Gurkha-Soldaten ruft, weil er ein Problem hat. In Angpang bat solch ein Mann den BWS darum, die Quelle neu zu fassen und ihr Wasser zu den Häusern zu leiten. Die Engländer machten es vorbildlich: Alle Leute zu einem Gespräch einladen, vier Tage bleiben, die Schüttung messen, Wasser mitnehmen zum Labor, alle paar Monate wieder für vier Tage kommen, sich wieder unterhalten.
Mit Kul fahre ich zum Dörfchen Namobuddha abseits von Kathmandu, einem ärmlichen Nest am Berg. Wir laufen um die Kurve und stehen vor einem Prachtbau von buddhistischem Tempel, machtvoll, nagelneu, mit allen Schikanen. „Wo haben die die Millionen her?“, sagt Kul. Und ich: „Wie schaffen sie es, so einen Komplex hier in der Wildnis zu stellen? Mit Helikoptern?“
Der Ort ist heilig, weil hier Buddha in einem Vorleben lebte, 6000 Jahre vor seiner Geburt in Lumbini am Rand von Nepal.
Reiche tibetische Frauen aus Indien kommen hierher. Sie wollen noch mehr Gebetsfahnen über den Berg hängen als eh schon flattern. Kleine Jungs nehmen sie und klettern für zehn Rupi eine Stange hoch, um sie aufzuhängen. Von dem Geld kaufen sie Zigaretten. Kul regt sich darüber auf. Eine tibetische Frau redet ihnen auch ins Gewissen, ich mit. „Ich rauche nie“, sage ich. „Brauche meine Fitness.“ Vielleicht hilft‘s, wenn der stets geachtete Tourist ein gutes Vorbild ist.
Am nächsten Morgen hab ich eine glorreiche Privateinsicht: Ich denke mir, egal ob ich jetzt einen dicken Polstersessel hab wie ein Millionär oder einen simplen Bambushocker im Reisfeld wie ein Bauer, die Hauptsache ist, dass ich glücklich bin.
Kul machte Anfang März 3600 Menschen glücklich, weil er in Angpang ein Fest ausrichtete. Im Solu-Khumbu hatten bisher zwei Dörfer so ein Mammut-Fest, um sich zu präsentieren, und jenes in Angpang war das Beste, wie hinterher alle sagten.
45 Mann um Kul stellten es innerhalb von nur vier Wochen auf die Beine. Der Aufwand war unglaublich, mit eingeflogenen Musik- und Tanzstars, mit einem Komiker-Duo, mit Riesenrad und einem Volleyball-Match der 16 Distriktmannschaften. Es gab auch einen 10-km-Lauf von Maidane her, den die besten in einer halben Stunde schafften. Zwei Schüler aus Angpang brauchten 45 Minuten.
Durga stellte einen Aufruf in Facebook, dass jeder einen kleinen Betrag dafür spendet. Viele Exil-Nepalesen in den Golfstatten und in Asien lasen das und gaben großzügig. Durga legte auch ein Internetkabel von Salleri her, 26 km lang, an den Ästen von Bäumen festgemacht. Ein Video auf Youtube zeigt, was los war, wie mitgetanzt wurde, wie lang Reden gehalten wurden. Ein früherer Tourismus-Minister war der Stargast.
Kul war für die Verpflegung der Promis zuständig. Er kochte und kochte und sein Kater hatte endlich mal Fleisch in Hülle und Fülle. Kul: „Alle Amtsleiter kamen. Das war so gut. Wir haben so viel erreicht bei den Gesprächen.“
Sie sahen eine Ausstellung mit Produkten aus Angpang, unter anderem mit den Webstoffen. Und hörten von dem Drama mit dem Riesenrad: Es kam zu spät an. Bis es aufgebaut war, war das Fest halb um. Kul und seine Freunde halfen den zwei Begleitjungs des Lastwagen-Konvois, die endlos vielen Teile bis morgens um vier zusammen zu schrauben. Danach waren sie erledigt. Sie hatten zwei Tage lang nichts gegessen und kaum getrunken.
„Weil das Riesenrad so spät fertig war, haben wir keinen Gewinn gemacht. Aber die kleinen Kioske mit ihrem Imbiss, die haben Zehntausende von Rupis verdient.“ In zwei Jahren wird alles wiederholt, dann mit einem echten Marathon.
9.
Im Souvenir-Guesthouse haben Sylvain und Julien aus Frankreich, die für ewig in Nepal bleiben wollen und an einem kleinen See ein Guesthouse führen (vor allem Israelis kommen gern dahin), einige junge Leute zu Gast, die sie zuvor in den Straßen von Kathmandu trafen. Es sind Clement, Selma, Simon, Charles und Isabella. Sie reisen teils mit Woofing, das heißt, sie können irgendwo in Thailand oder Indien oder der Welt arbeiten und bekommen dafür kostenlos Essen und Schlafen. Später treffen wir noch Pauline, die Freundin von Clement, und sie organisiert, dass Kul seinen kleinen Bauernhof ins Woofing stellt und dass Clement irgendwann dorthin findet – 280 km östlich von Kathmandu auf 2450 m Höhe – und Kartoffeln erntet. Oder in der Schule Englisch-Unterricht gibt.
Bei unseren Ausflügen aus Kathmandu raus geht es durch Abgasnebel. Die Busfahrer, denke ich, und ihre Ticketjungs, sind in zehn Jahren gestorben. Täglich der Dunst.
Drinnen ist der Bus immer gestopft voll. Moderne Nepali-Musik dröhnt, d. h. Techno & House mit Flöte. Stillende Mütter rattern auf ihrem Smartphone die neuesten Facebook-Nachrichten ab. Kul zeigt auf seinem Display ein Bild verkohlter, verkrümmter Körper: In den Emiraten kamen bei einem Brand 200 nepalesische Arbeiter um. Das bedeutet für ihre Familien hier, die durch die heimgeschickten Löhne zur luxusverwöhnten, oft eingebildeten Oberschicht wurden, neben dem Leid eine herbe Ernüchterung.
Der Bus stoppt. Der nur zu bewundernde Ticketjunge lenkt sportlich, mit großer Umsicht, den Aus- und Einstieg. Der Fahrer knippst am Radio herum, bis er fröhliche Musik findet. Kul sagt bei den ersten Klängen: „Auch wenn die Nepalesen nicht reich sind, sind sie immer glücklich. Das ist doch erstaunlich.“
In Bhaktapur entdecke ich die „Peacock Paper Factory“, die ein einziger Mann aufgebaut hat. Die Führung durch die antike Druckerei ist ein Erlebnis. Ich bestaune diesen Mann, der Politik-Wissenschaft studierte und heute selbst an der Universität lehrt. Dazwischen nahm er jeden verdienten Rupi, um alte Holzschnitzereien zu kaufen und Entwürfe für neue zu machen. 7000 Bilder ließ er umsetzen. Seine Frau verwaltet das Geld, er hat die Ideen, viele Arbeiter-innen wirken mit.
Seinen Sohn, 17, zog er vom Computerspiel weg, indem er ihn beauftragte, im Internet alte Tempel- und Götterbilder zu sammeln. Daraus wurde ein handgedrucktes Buch, inzwischen 3500 mal für 50 Euro verkauft. „Mit dem Buch können Sie einen Tempel einrichten.“
Er selbst setzt gerade eine irgendwo gerettete kleine Tempelpagode aufs Hausdach. Der Zimmerer ist ein kleiner alter Mann, lächelnd. Ich denke mir: Er baut die Hölzer nicht einfach so zusammen, er gibt ihnen seinen Glauben mit.
Der Eigentümer der Druckerei hat im Gesicht etwas von einem Behinderten, nur eine Spur – darum vielleicht sein einseitiges Beharren auf der Kunst. Und in seinem Gang ist etwas noch nicht Gesehenes: Wenn seine Füße, in simplen Turnschuhen, auftreten, ist es, als gäbe er dem Boden Segen. Vielleicht, weil er sich so stark mit dem Buddhismus befasste. Weil er zu dem Schluss kam: „Jeder Reiche muss etwas abgeben.“
Dass Nepal solche Menschen hat. Zum Beispiel auch den Gründer des berühmten „Pilgrims Bookhouse“ in Kathmandu. Er ist wie Einstein, ein denkender Mann mit wallendem grauweißen Haar, klug, zurückhaltend, menschlich. In seinem Geschäft gibt es Bücher zu Themen, wo man denkt, die kauft doch nie jemand. Aber es gibt sie. Und er hat besonderes Kunsthandwerk, das außen herum in den Hunderten von Läden fehlt.
Kul ist im Kleinen auch so ein besonderer Mann. Wenn er in seiner Küche in Angpang auf der Bank sitzt, links der Lehmofen, rechts das Regal mit Blechschüsseln und Tellern, in der Mitte alles verraucht, scheint er ein einfacher Mann zu sein. Aber dann erzählt er. So klug, mit solch einem Überblick. Und wenn er handelt: Er denkt nicht: „Jetzt könnte ich mal etwas tun.“ Sondern es geschieht leicht aus dem Handgelenk heraus. Für seine Terrassenfelder, für die Politik, fürs Dorf, für die Armen.
Aber er hat auch seine durchhängenden Momente. Wenn er müde ist. Am Morgen. Dann sieht er alles negativ. Aber eine Stunde später rappelt er sich wieder auf.
Ein Mann fragte ihn einmal: „Wie viel Geld hast du von ,Kinder von Nepal‘ inzwischen bekommen? 60 000 Euro? Nimm’s und geh nach Kathmandu und versteck dich.“ Kul tut es nicht. Er will nicht reich sein. „Ein Reicher hängt und hängt an seinem Geld, bis er stirbt. Er gibt nie Kredit. Er denkt nicht mehr normal.“
Die Leute in Angpang sagen: „Kul, du hast so viel Land. Warum arbeitest du noch?“ „Weil ich den Armen sehe, für ihn. Um helfen zu können.“ „Du gehst in Sandalen zu Versammlungen. Hast du keine Schuhe?“ „Ich brauche meine Zehen nicht zu verstecken. Ich will ganz bescheiden leben. Eine Hose für 9 Euro, ein Pullover für zwölf, das reicht.“
10.
Ich laufe nach Patan, zur Nachbarstadt von Kathmandu, in den Zoo. Dort besuche ich jedes Mal die Elefantenkuh Pawankali. Sie erkennt mich immer wieder. Junge Mütter geben dem Wärter ihre Babys und er trägt sie dreimal unter ihrem Bauch hindurch oder drückt ihre Stirn an Pawankalis Rüssel. Das bringt Glück und Schutz. Die Mütter geben ihm auch Geldscheine, die sie erst an die Stirn ihres Kindes drücken und dann an Pawankalis Rüssel.
Im Zoo leben viele der so wunderbar bunten Fasane des Himalaya. Ihnen scheint es gut zu gehen, nicht aber den Himalayabären. Sie leiden in einem schmierigen, dunklen Betonwürfel. Alle großen Tiere, die weites Laufen gewöhnt sind, sehen unglücklich aus.
Ein Schuljunge, ca 16 Jahre alt, fragt lachend, ob er mich fotografieren kann. „Ich bin auch ein Tourist“, sagt er. „Alle diese Tiere von Nepal hab ich noch nie gesehen, ich schwöre es!“ Dann springt er davon, so sportlich wie alle Nepalesen, unglaublich behende.
Später, beim Weg durch den Vorhimalaya hinauf in die Everest-Region, ziehen Muli-Kolonnen an uns vorüber. Zehn bis zwölf am Tag. Die müden Tiere tragen Gasflaschen, schwere Säcke mit Zwiebeln, Zucker oder Salz. Sie sind dürr, mit Scheuerstellen von den Gurten und haben ein Leiden im Blick, das man nicht vergisst.
Kul verfolgt sie genau: Es gibt keinen Pausentag; immer hoch und runter, hoch und runter, tausende Meter, über Felsen, steile Engen, rutschige Passagen. Ab und zu haben sie Freß-Stop: 20 Maiskörner pro Muli liegen dann auf dem graslosen Boden. Wahrscheinlich müssen sie tragen bis sie umfallen.
Weiter oben sind es Yak-Kolonnen. Aber die Yaks scheinen nicht so zu leiden. Es sind freundliche Tiere mit Humor, eher hinnehmend. Die Mulis dagegen sind feinfühlig wie gute Pferde, gequält.
11.
Zur großen Boudhanat-Stupa im Osten Kathmandus gelaufen. Tibeter errichteten sie. Tibeter haben hier ihre Geschäfte. Tibeter umrunden sie betend. Der wuchtige Steinklotz soll etwas Aggressives, das hier aus der Erde kommt – der Legende nach ein drachenartiger Tiger -, unten halten. An einer Seite ist ein großes Zelt aufgebaut, in dem dicht an dicht exil-tibetische Frauen aus Indien sitzen. Jede hat für das Frühstück 300 Euro bezahlt oder für drei Mahlzeiten 450 Euro. Das Geld ist für den Dalai Lama.
Das Gegenteil dieses Groß-Tempels ist drei Kilometer weiter eine kleine Vertiefung mitten in einer Autostraße, kaum zu sehen. Dort überteerte man eine heilige Stelle, ließ aber eine Kuhle für die Blumengaben der Gläubigen.
Unweit von hier tauche ich ab in einen Kellerimbiss, wo bunt verschiedene Essen aus Schalen nach oben leuchten. Ich setze mich an einen kleinen Tisch, zu zwei Männern. Einer im grauen Anzug scheint ein Amerikaner zu sein, gebildet, vornehm. Er spricht mich in fließendem Englisch an. Er ist aber Nepali, der Sozialreferent der Nepali Congress Partei. Der schmale Mann neben ihm mit dem Hindukäppi im traditionellen Anzug ist der Leiter der Partei. Ab und zu treffen sie sich extra in so abgelegenen kleinen Stuben, sagt der Referent. Um große Themen zu besprechen.
Er stammt aus einem Dorf in einer komplett „remote area“, einer abgelegenen Gegend im Osten, ohne Schulen. Er kämpfte sich hoch. „Ich wollte lernen, ich wollte lernen!“ Jetzt entwirft er Entwicklungsprogramme für solche Gebiete. Aber die ständig wechselnden Regierungen und die Korruption bremsen alles. Frust bricht aus ihm. Er ist aufgebracht. In seinen Gesichtszügen spiegelt sich die Ohnmacht. „Nepal geht den Bach herunter, immer weiter abwärts.“
Am Ende lädt er mich ein. Er bezahlt für mich, gibt mir seine Telefonnummer. „Rufen Sie an, wenn Sie wieder in Kathmandu sind.“ Als ich auf die Straße trete, merke ich, dass er mir einen Schutz mitgegeben hat. Am Verhalten von zwei Hunden.
12.
Um vier Uhr morgens sind wir an einem Platz, wo die Busse und Jeeps losfahren nach Angpang. Wir wollen aber auf halbem Weg noch einen Abstecher zu einer berühmten, heiligen Höhle machen. Ein junger Hippie-Tourist fragt uns im Dunkel nach dem Bus nach Salleri, zur Kreisstadt neben Angpang, von wo aus man zum Everest laufen kann. Später treffen wir ihn wieder, unterhalb vom Everest, beim Rückweg aus den Bergen, mit seiner schönen Freundin. Beide gingen zu Fuß hoch, um den teuren Flug nach Lukla zu sparen, der viele Touristen gleich auf die halbe Berghöhe katapultiert.
Kul bestellt jetzt bei einer Frau, die schon in aller Frühe vor einem Teekocher hockt, obwohl es noch dunkel ist, zwei Tassen. „Sie verdient bestimmt viel“, sagt er. Er erzählt vom Energieminister, dem einzigen, der etwas taugt in der Regierung: Er und sein Hauptreferent schafften es, Kathmandu dauernd mit Strom zu versorgen. Die Zeiten sind vorbei, wo die Straßen abwechselnd dunkel waren. Als Geschäftsleute noch an diesem Wechsel verdienten.
Es gab auch einen guten Finanzminister. Aber er kam mit seiner Familie bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben.
Der Jeep kommt endlich und bringt uns in ein breites Flusstal, das uralte Lehmhäuser hat wie in biblischen Zeiten. Im flachen Wasser steht fern ein Mann, ganz klein in den weiten Fluten. Er ist voller Zeit. Er hat die Zeit mit sich.
Wir fahren an Arbeitern vorbei, die Zement schaufeln. Sie sehen mich, nobel auf den großen Beifahrersitz gepackt (nicht hinten in die Viererreihen gequetscht). Wahrscheinlich wünschen sie sich, einmal so ein Westler zu sein. Ich bin es. Und sollte etwas draus machen.
Der heilige Ort ist Haleshi (sprich Holeschi). Er hat zwei große Höhlen in einem Hügel, und noch eine ganz kleine Höhle hoch in einer Felswand abseits, in einem anderen Berg. Dieser Berg ist so dicht mit Gebetsfahnen überspannt, wie ich es noch nie gesehen habe. In dieser Minihöhle meditieren ein Buddhist aus Sikkim und einer aus Deutschland, den Kul am Abend vorher in unserem kleinen Dorfhotel traf.
Von den zwei großen Höhlen ist die eine innen mit Treppen und einer Mauer bestückt. Fledermäuse machen Lärm, Tauben fliegen, Pilgerinnen in buntesten Kleidern steigen malerisch in die Dunkelheit hinab. Buddhistische Mönche haben sich ein Eck gekapert, Einzelgänger hocken am Rand und lesen endlos in dicken Büchern.
Unten hält die Religionsgemeinschaft der Kirat einen Gottesdienst. Alle kauern am Boden um einen Vorleser. Später ziehen sie leicht tanzend um das schummrige Shiva-Heiligtum. Dabei wird erkennbar, wie geschmeidig die Füße des Priesters sind, welch gut geformte Zehen er hat.
Kul erklärt kurz die Kirat- und auch gleich die Gain-Religionsgemeinschaft. Von den Gain hält er viel, seit er zwei Gruppen von ihnen nach Muktinath führte. Es sind freundliche, gute und vegetarische Leute, die ihren Tempel in Kathmandu haben.
Die Kirat folgen dem alten Schamanismus mit Verehrung der Mutter Natur und der Ahnen. Drei Prozent der Nepali (vier Volksstämme) gehören dieser weltweit agierenden Gruppe an.
Oben am Höhleneingang stand an der Wand geschrieben, dass einen das Meditieren hier direkt aus dem Rad des Lebens in die Ewigkeit katapultiert. Ich probiere es gleich und komme zum Schluss: Was ich ganz oben im Himmel sehe, gibt es lustigerweise auch unten bei uns. Man muss also gar nicht so toll meditieren. Es ist eine feine, herzliche Stimmung dort oben, wie sie zwischen einer Mutter und ihrem Baby besteht, gerade erst erlebt bei der stillenden tibetischen Mutter am Rand der Verkaufsstände.
Interessant ist, dass die Höhle früher, ohne Treppen und Mauer und ohne die beiden einbetonierten gammeligen Dreizacks, viel besser wirkte. Die Mauer wurde gezielt gebaut, um dem Hinduismus zu dienen. Sie staucht die Naturkräfte.
Wir laufen weiter, zur Kirmes am Fuß der zweiten Höhle, wo gerade eine Budenstadt aufgebaut wird, und ich staune, welche wunderbaren Bilder ich hier sehe: ein Mädchen mit einem großen dunklen Hautfleck und Erdnüssen, einen lachenden Stoffverkäufer, die Schiffschaukel mit ihrer dröhnenden Musik, die Budenbauer, die Lehmofen-Bauer, die Bänke und Bambuswände, die schöne Frau im Profil am Waschplatz, den Buddhistenjungen mit einem Wassereimer, den muskulösen Jungen mit seinem West-Haarschnitt, einen Saddhu, einen von der Sonne fast schwarzen Tellerwäscher, einen Verkäufer von Flöten. Er hat sie an einem Stab zusammengesteckt wie einen Baum mit Ästen.
Die zweite Höhle ist innen auch verändert, durch eine Plattform oben. Ihre ursprüngliche, sanfte, liebevolle Stimmung wird damit unterbrochen.
Unter den Buddhistenjungs entdeckt Kul einen aus Angpang. Er spendiert vier von ihnen ein Essen mit Fleisch. Sie sind glücklich.
13.
Bei der Weiterfahrt nach Angpang über Okhaldhunga erzählt Kul, wie er als Trekkingführer den Nachwuchs trainiert. Generell sollte kein Jugendlicher den Beruf des Vaters haben müssen, also automatisch Zimmerer werden. Auch nicht automatisch Trekking-Guide. Wenn, sagt er, dann sollte er sich erst einmal als Träger bewähren.
Sind die Jungs dann bei einer Tour dabei, erlebt er aber, dass sie sich nach dem Aufbau der Zelte für die Touristen in ihr eigenes Zelt setzen und den Reißverschluss hochziehen und pennen. Dann steht Kul auf, zieht irgendwo Heringe raus, dass alles zamfällt, holt die Jungs und sagt: „Der Wind! Ihr müsst die Zelte dauernd beobachten, dass sowas nicht passiert!“ Danach bleiben sie bis zum Nachteinbruch vor ihrem Zelt und achten auf alles. Immer. Ein Leben lang.
„Sie müssen auch lernen, mit jedem zu reden, mit den Trägern und den Dörflern. Das ist wichtig, das müssen sie können.“
Dorfjungs arbeiten immer besser als Stadtjungs. Wer noch dazu in der Schule gut ist, hat seinen Job sicher. Keiner muss dann 30 000 Euro sparen, um alle Amtshürden zu bezahlen für eine Arbeit im Ausland. „Würde er die 30 000 daheim anwenden, hätte er mehr davon“, mosert Kul.
Er schüttelt den Kopf: „Wer nach Japan geht, muss 14 bis 18 Stunden in Rettichfeldern hacken. Der Rücken schmerzt, kein Essen. Abends bist du kaputt. Morgens kriegst du nur Tee. Ist das erstrebenswert?“
Er erzählt auch von seiner Zeit in der Sherpa-Gewerkschaft der Trekkingführer. Er war der Sekretär, sein Cousin Rudra der Kassier. Beide gingen aber nach Jahren raus, weil sie keine Zeit mehr dafür haben. Kul: „Wenn ich jetzt in die Bezirksregierung gewählt werde, mach ich nur noch ,Kinder von Nepal‘. Mehr schaff‘ ich nicht.“
Seine Frau Kalu dreht eh am Rad, weil er kaum daheim ist und mehr Dorfgeschehen betreibt als Küchenbau (die Decke hat immer noch ein Loch; der Fußboden müsste mit Holz belegt werden). Sie sitzt allein da, nur eins der fünf Kinder bei sich. Zwei sind nämlich seit frühester Kindheit in Kathmandu bei der Tante, um bessere Schul-Chancen zu haben. Der älteste Sohn lebt in den Golfstaaten, die zweitälteste Tochter ist in Japan. Ich sage Kul einen tollen Spruch aus England, den mir meine Frau schon vor Jahren auf den Weg gab, weil ich genauso viel wie er draußen herumkurve statt in der Familie: „Charity begins at home.“ Gutes zu tun beginnt daheim.
14.
Ich habe extra 2000 Euro mitgebracht für die Müttergruppen der Dörfer. Kul ist begeistert. Das könnte man ja gleich mal verteilen, das wirkt ganz gut im Wahlkampf. Die Frauen könnten vom Dorfkomitee einen Streifen Land pachten, was anbauen, verkaufen, und davon die Pacht bezahlen.
Ich bremse ihn: „Frag die Frauen, was sie damit machen wollen. Das sind Männer-Ideen. Das klappt nie, wenn es nicht ihr eigener Wunsch ist.“ Kul lenkt ein, und zwar, weil er vorher eine Frauenrechtlerin gehört hat, die den Frauen von Salleri klar machte, wie sie von den Männern unterdrückt werden. „Die Männer hörten das mit, weil sie draußen standen und durch die Fenster des Saals reinschauten“, sagt Kul. „Die Männer fanden das so interessant, dass diese Frau am nächsten Tag noch einmal sprach, für sie. Danach sagten die Männer: Eigentlich hat sie recht. Das war uns nie bewusst. Wir unterdrücken tatsächlich die Frauen. Zum Beispiel steht ein Lehrer über einer Lehrerin.“
Durch diese Erfahrung hellhörig, verzichtete Kul jetzt auf Vorgaben und wir konnten alle Müttergruppen frei entscheiden lassen, was sie mit dem Geld machen, und wofür sie künftige Gelder einsetzen, wenn sie einen Projektplan haben. Es kam heraus: Sie möchten Ziegen kaufen, um Fleisch zu haben (Ziegen sind möglich, wenn außen genug Laub wächst). Sie können sich Gewächshäuser vorstellen für Gemüse (ein Muster-Gewächshaus steht sogar am Rand von Angpang, gesponsort von einer Österreicherin, Carola Gosch, wie ein Schild verrät – sie ist in Salleri tätig). Sie wollen Champignons züchten, weil sie dafür einmal eine Schulung hatten.
Ich dachte mir noch: Irgendwie kriegen wir es zusätzlich hin, dass die Mütter einmal einen Ausflug nach Haleshi machen, zu den Höhlen. Als Lohn für ihr lebenslanges Schuften. Haleshi ist ja für alle Nepali ein Traum, wie Mekka.
Als wir übrigens in Angpang einfuhren, das heißt die ersten Häuser sahen, spürte ich, dass Kul ungern ankam. Weil er die ganzen Aufgaben wieder vor sich hatte, die Last der Politik. Aber einmal im Haus, war das vorbei.
Unten im Schulhof bekamen wir einen großen Empfang. Obwohl ich nur einen Begrüßungsschal bestellt hatte, bekamen wir beide je 20. Wir konnten kaum mehr die Nase aus dem Stoffberg halten. Es wurden ellenlange Reden gehalten, wie bei einer kommunistischen Veranstaltung. Das Mikrophon glühte. Woraufhin ich meine Rede knallhart kürzte: „Wir hatten einen Bürgermeister in Pegnitz, der berühmt war für seine Reden. Weil sie kurz waren und lustig. Er sagte immer: Der Zuhörer muss was davon haben; er muss weggehen und sagen: ,Das war jetzt toll, da hat sich‘s gelohnt, hinzugehen.‘ Dieser Bürgermeister bat immer den Mann neben seinem Stuhl, ihn mit dem Fuß anzuhauen, wenn zwei Minuten um waren. Dann stoppte er. Das mache ich jetzt auch. Meine Rede ist um.“
Deek Dhan, der neue Englischlehrer, strahlte. „That was a strong speech, Sir!“
Kul kehrte danach zu seinem Alltag zurück, sprich ins Multi-Tasking: Müsli für mich machen, Wäsche aufhängen; über die Felder gehen; Stachelschwein-Zaun erläutern; Rudras Heilpflanze beäugen, die er ihm geschenkt hat; Gemüsefeld betrachten; süßen Groundapple als Futter an die zwei Pflugochsen geben, Apfelbaum inspizieren, einen Gurkha-Baum-Samen pflanzen, den er hinter Kathmandu aufgelesen hat. Diese Bäume schießen schnell. „Von dem Laub können unsere Kinder in 15 Jahren viele Ziegen halten. Ich hab außerdem selber 400 Bäume für Holz gepflanzt. In sechs Jahren kann man die sägen. Das bringt gutes Geld. Andere können das kopieren.“
Für den Bühnenbau für das große Fest hatte Kul übrigens jedes Dorf um einen Baumstamm gebeten. „Das ersparte uns einen Kahlschlag.“
15.
Die Frauen der Webgruppe von Angpang sind frustriert. Weil sie ihre Stoffe nicht verkaufen können. Zusätzlich mussten ihre drei Gruppen in einen Betonkeller unter dem neuen Marktgebäude ziehen. Damit ist das loft-artige Dachgeschoss mit seiner schönen Holzverkleidung und dem Licht passe. Ich schlage Kul vor, er soll Farbe kaufen, dann streiche ich die Betonwände. Und auf den Boden müssten wir Holzbretter legen, weil die Frauen immer auf dem kalten Beton sitzen, um ihre Garne umzuspulen.
Kul erzählt, dass zwei der Frauen einmal geholt wurden, um anderen Frauen in einem entfernten Dorf ihre Webtechnik zu erklären. Jeder ist stolz darauf, aber es bringt den Absatz nicht voran. Beim großen Angpang-Fest versprach immerhin ein Beamter, maschinengewebte Stoffe abzunehmen. Deshalb besuchte ich später mit Kul eine Webfabrik in Bhaktapur, 15 km östlich von Kathmandu, um solche Maschinen in Aktion zu sehen.
Diese Fabrik gehört einen schlanken, großen Mann, immer lächelnd, immer eine Sportmütze auf dem Kopf. Die Fabrik ist eher eine luftige Scheune (oder zwei oder drei, ineinander verschachtelt). Zwei Frauen sitzen an einer Wand und zwirbeln weiße Baumwollberge. Andere zerfasern am Boden blau gefärbte Wollfetzen, um Filzjacken daraus zu machen. Ihr tolles Design kommt aus Holland: Die Fabrik macht nichts für Nepal, sondern exportiert nur.
Wieder andere Frauen beherrschen den Siebdruck. Vier nähen kunstvoll an Maschinen. Eine Frau ist für den Zuschnitt da. Eine andere bedient uralte Webstühle – keine Webmaschinen.
Abseits stehen auch still und verstaubt zwei stabile Holzwebstühle, die als Geschenk aus Europa kamen: Eine holländische Dritte-Welt-Firma gewann sie als Preis für die guten handgemachten Nepal-Stoffe dieser Firma. Irgendwann werden diese Webstühle wieder benützt, versichert der freundliche Juniorchef – wenn der Umbau der Fabrik geschafft ist.
Keshar Prajapati, der Eigentümer, zeigt, was seine Frauen alles herstellen: Kissenbezüge, Rohseideschals, Wandhänger für Stifte, Untersetzkissen für Klangschalen („sie machen 40 % unserer Produktion aus, für einen Deutschen“), Pantoffeln aus traditionellen Nepalstoffen, Baumwolltragetaschen mit Aufdruck (-zig Firmen aus Europa bestellen hier, weil eine nur 90 Cent kostet), stabile Segeltuchtragetaschen (4 Euro).
Der Designer der Holländer kommt alle halbe Jahre und bringt neue Modeideen. Wir erfahren hautnah, wie sehr man an den geringen Herstellungskosten verdienen kann. Aber die Frauen haben immerhin Arbeit.
Wie wichtig das ist, hören Kul und ich am vorletzten Tag in Kathmandu. Da entdecke ich „Local Womens Handicrafts“, das Geschäft einer Frauenrechtsbewegung. Es liegt direkt gegenüber der „French Bakery“, die in jedem Reiseführer steht.
Ein schmales Mädchen, ganz jung, erklärt den Touristen in bestem Englisch, wie 35 Frauen in einer Fabrik Taschen und Geldbeutel und Kleider herstellen, um vom Erlös zu leben. Sie erläutert auch die Unterdrückung der Frauen durch den Hinduismus, durch die Männer. Ein Beispiel ist die Menstruationsphase. Dann dürfen Frauen sechs Tage lang nicht aus einem dunklen Raum gehen, dürfen nichts in der Küche anfassen, auch nicht die Erde berühren. „Sind wir so schlecht?“
Sie geht deshalb extra in die Regierungsschulen („Privatschulen sind schon aufgeklärter“) und bringt den Mädchen ein Paket mit Mehrweg-Menstruationseinlagen, waschbar und dicht. „Die Mädchen auf dem Land haben nichts. Kommt die Blutung in ihrer Schulzeit, hilft ihnen niemand. Die Männer sagen: Ach, das geht schon. Aber Schmutz dringt ein und sie entzünden sich.“
In dem Paket steckt auch ein Zettel, der die Mädchen ermutigt, die Religionszwänge zu ignorieren. Sie sollen selbst arbeiten und unabhängig sein von den Männern. „Schauen Sie mich an: Ich bin die Spezialistin für die Blumenornamente auf der Tasche hier. Die sticke ich. Von dem Geld kann ich leben. Ich brauche nicht mehr zu heiraten, um zu überleben.“
Kul hört ihr nur ungern zu. „Die Frauen sind bei uns nicht unterdrückt“, sagt er zweimal. Er will missmutig weitergehen, aber ich bleibe stehen. Plötzlich sagt er doch: „Sie haben in allem vollständig recht.“ Fügt aber hinzu: „In Bezug auf die Frauen des Terai. Die Frauen in den Bergen haben genug Rechte.“
Das Terai ist das Flachland von Nepal nach Indien. Dort kommt das Mädchen her. Sie hat die Gesichtszüge der Inder.
Das Mädchen sagt: „Jedes Jahr bringen sich bei uns zwischen 15 und 20 junge Frauen um, weil sie verheiratet werden ohne Mitgift. Ihre Eltern haben sich verausgabt mit der Bezahlung der Schule und der Ausbildung. Sie können die Mitgift nicht mehr bezahlen. Sie geben ihre Töchter zum Ehemann, und dessen Familie behandelt sie dann wie einen untersten Menschen. Verzweifelt vegetieren sie dahin oder bringen sich um.“
Kul bestätigt das. Er nennt noch einen zweiten Todesgrund für Frauen im Terai: Sie werden als Hexen verfolgt und umgebracht. „Auch bei uns in den Bergen gibt es diese Hexenverfolgung durch die Männer. Sogar in Angpang. Aber ich habe das verboten. Ich will das Wort ,Hexe‘ nicht hören. Wenn eine Frau in so einen Ruf gerät, dann aus Versehen.“
Der Amerikaner Broughton Coburn schrieb zwei Bücher über eine alte, weise Frau – genannt Aama – aus Nepal. Sie lebte südlich vom Pokhara-See in den Hügeln. Ihr Volk sind die Gurung. Sie erzählte ihm, wie die Männer nachts Frauen jagen, denen sie Hexenkünste nachsagen. Diese Frauen können sich nur auf den Friedhof retten. Vor dessen Grenze lassen die Verfolger ab.
Aama berichtete ihm auch, wie lange es Sklaven gegeben hat in den Familien. Sie wurden verkauft wie Vieh. Kul: „Das gibt es heute noch, im Terai.“
16.
Wir fahren von Angpang mit dem Jeep nach Salleri, in die Kreisstadt, und noch zwei Kilometer weiter nach Phaplu, um von dort drei Wochen ins Everestgebiet zu wandern. Kul hat alles ausgerechnet: Danach schafft er es nämlich noch haarscharf, für seine Wahl zu kandidieren.
Im Jeep erreicht ihn ein Anruf: In Angpang wurde ein Mann tot am Weg gefunden. Kul schimpft, dass er nicht dabei sein konnte. Dann hätte er alles still geregelt. So rief jemand die Polizei. Der Mann muss deshalb ins nächste Krankenhaus zur Obduktion. Ein Riesenaufwand, der Transport und die Amtspapiere.
Unterwegs rumpeln der Jeep immer noch durch Erdrutsche vom Erdbeben von vor zwei Jahren. Wir kommen an Großbaustellen für ein Wasserkraftwerk vorbei. Riesige Rohre werden vergraben. Aber alles stoppte wegen eines Korruptionskandals, der in ganz Nepal Schlagzeilen machte.
Kul steigt kurz vor Salleri aus und sucht das Haus von Laghu Maya Rai. Sie ist eine gehbehinderte junge Frau, die er vor einem halben Jahr auf der Straße gesehen hatte. Auf ihren Händen und Knien kroch sie vorwärts. Er hatte überlegt, ob er sie ansprechen könnte, dreimal, und es dann mutig getan. Diese Frau, die aussieht wie 18, aber 28 Jahre alt ist, lebt jetzt in einem einfachen Haus für Behinderte.
Als wir ankommen, kriecht sie im Flur am Boden und blickt von unten hoch – mit einem so schönen Lachen, dass es Kul noch lange in Erinnerung ist. Mir auch.
Dieses strahlende Mädchen – sie sieht so jung aus – kriecht in ein Zimmer und setzt sich auf eine Bank. Jetzt scheint sie vollständig gesund zu sein, ohne Probleme. Aber sie hat einen Hüftschaden, der verhindert, dass sie ihre Beine benützen kann.
Sie stammt aus einem Dorf weit entfernt. Ihr Eltern und Brüder sind dort Bauern. Um nach Salleri zu kommen, kroch sie drei Tage auf allen Vieren. Ihre Knie haben eine Hornhaut.
Jetzt begann sie eine Ausbildung als Lehrerin. Kul ist dagegen: „Wer stellt sie an, wenn sie im Klassenzimmer nicht stehen kann?“ Ich sage: „Du in Angpang, in deiner Schule.“ Aber er ist nicht überzeugt. Sie soll lieber für Büroarbeit lernen.
„Kinder von Nepal“ ist jetzt da, ihr finanziell etwas zu helfen. So kann sie vielleicht einen Mann bezahlen, der sie auf den Wegen trägt. Auch müsste man versuchen, ihre Hüften in Deutschland zu operieren.
17.
Von Phaplu (2400 m) laufen wir los, rauf nach Lukla (2840 m). Vorbei an einem Healthpost (Gesundheitsstation), aus dem ein kluger jüngerer Mann mit Brille kommt und Kul begrüßt. Er ist der Leiter solcher Einrichtungen mit einem Büro in Kathmandu.
Ein Regenduscher kommt. Stunden später nerven einige Läuse oder Flöhe im Bett der Lodge (Dorfunterkunft). Es ist aber nicht so schlimm. Man kann sie schnell zerdrücken und zerreiben.
Dann kommen wir durch Taksindo (2930 m), ein etwas trostloses Dorf auf einem kleinen Berg. Ich erinnere mich an unsere Wanderung vor zehn Jahren, als wir umgekehrt liefen, von Lukla hierher und weiter nach Angpang hinunter (2450). Damals trafen wir eine einzige Wandergruppe mit Deutschen, sonst waren wir allein. Kul hatte mich damals gewarnt: „Wir gehen schnell durch Taksindo, du sprichst mit niemandem, das sind keine guten Leute.“
Im Wald, wo jetzt der Regenduscher war, hatte er mir einen Holzstock gegeben und selbst einen Knüppel genommen. Gegen die Räuber. „Da gibt es oft Überfälle.“
Jetzt geht es wieder runter ins Tal und rauf. Wir treffen dauernd Wanderer, zum Beispiel einen langen lustigen Spanier, der vorher mit seinem Fahrrad von Neu Delhi kam und damit auch am Annapurna unterwegs war, aber wegen Schnees aufgab. Oder einen heiteren irischen Rentner, der genauso von Neu Delhi herradelte. Und Sören aus Aachen, einen freundlichen jungen Mann, der mit zwei robusten Brasilianern läuft. Sören hat Gefühl für die Nepalesen. Er erlebte beim Mittagessen, wie eine deutsche Trekkerin viel bestellte für ihre Gruppe und sich dann weigerte, die elf Euro dafür zu bezahlen. Zehn wären doch genug, machte sie der Wirtin klar. Zehn Euro sind doch viel Geld für einen Nepalesen? Das reicht. „Die Wirtin war perplex. Sie verstand es nicht.“
Wir treffen einen reichen Japaner, vollständig in Synthetik gekleidet, schwarz. Bei der Hitze ist das Selbstmord. Er hat eine super Landkarte, auf der er sich von den Gastwirten eintragen lässt, wo er solide, mit etwas Luxus, schlafen kann. Wir dagegen suchen immer die einfachsten Dorfhäuser. Oder Lodges, mit deren Besitzern Kul verwandt ist. „Ich hab eine riesige Verwandtschaft. Ich bin fast mit jedem verwandt.“
Er trifft auch jeden Tag Männer, die ihn kennen. Strahlend und lachend laufen sie auf ihn zu. Es sind Trekking-Kollegen oder Porter, mit denen er früher zusammen war. „Manche kenne ich gar nicht mehr, aber sie kennen mich.“
Der Weg hat inzwischen sogar Wegweiser und einen kleinen rosa Ring, immer auf Felsen gesprayt. Wahrscheinlich diente er einmal dem Marathon, der erst von Kathmandu nach Namche ging, dann von Jiri ins Everest-Basecamp und jetzt von Namche zum Basecamp. Eine Frau aus Nepal gewann öfter. „Jetzt läuft sie sogar in Frankreich und Italien. Da siehst du, wie man als Nepali hochkommen kann.“
Eine Frau aus einem Dorf weit oberhalb war fit beim Everest-Besteigen. Aber sie ist ein kommandierender Typ. Keiner kann sie leiden.
Ein reicher Mann aus dem nächsten Dorf hatte einen Taugenichts von Sohn, immer am Raufen. Zweimal gab es hohe Strafen. Dann war die Familie ruiniert. Ihr Haus verfällt gerade.
Unweit davon bessert ein junger Mann gerade die Stufe unter der Klotür aus. Er lebt sonst in New York und ist auf Heimatbesuch: „Ich hab eine Greencard für die USA.“
Im nächsten Wald treibt eine alte, hutzelige schmale Frau drei Kühe durch die Büsche. Ich denke mir: Von ihrem Gesicht her könnte sie noch zaubern, eng verbunden mit den Pflanzen und Bäumen, wie sie scheint.
Kurz vor Lukla, als ich total verschwitzt beschlossen hab, nie mehr meinen Rucksack (10 Kilo) selbst durch diese Hitze auf diesen wirren Felspfaden hoch zu tragen, landen wir in einer Herberge, die gerade zurechtgezimmert wird für Touristen. Drum ist dort noch Platz, sonst ist alles voll.
Deshalb will Kul nie Träger organisieren, weil er oben am Everest, mitten in der Saison (März/April), leichter mit zwei Leuten unterkommt als mit drei. Außerdem gibt es Träger, die meckern und ihren Stiefel machen oder einfach abhauen.
In diese Herberge stolpert im Dunkeln ein erschöpfter Stefan aus Holland, ellenlang. Er stößt sich gleich den Kopf an. Komplett kaputt, bittet er um irgendeinen Schlafplatz, auch auf dem Boden, weil die Lodges weiter vorn alle voll sind. Er lief in einem Schuss von Namche (3440 m) herunter, über Lukla, was normalerweise ein Zwei-Tages-Marsch ist. Er will später noch nach China, jene Felsen besuchen, wo die Drachenflug-Szenen des Films „Avatar“ gedreht wurden. Und nach Vietnam. Fünf Monate hat er Zeit.
In dieser Nacht muss ich raus aufs Klo vor dem Haus. Danach träume ich, dass ich auf diesem kurzen Weg von einer Fremdzivilisation erfasst worden bin. Ähnliches hab ich auch schon bei uns erlebt, beim Zelten draußen. In den Träumen sieht man dann diesen Zugriff. Es ist ein uraltes Phänomen, das schon die Kelten erlebten. Die Nepali sprechen ängstlich von „Blutsaugern“. Ich hatte es schon vor zehn Jahren zweimal im Himalaya durchgemacht, nachts in Angpang, auch auf dem Weg zum Klo. Interessante Sache, von der auch andere Menschen berichten. Ich las einmal ein gutes Buch dazu, von der Archäologin Heinke Sudhoff („Ewiges Bewusstsein“). Wir sind also nicht unbeobachtet auf unserer Welt.
18.
Beim Weiterwandern queren wir kleine Erdrutsche unterhalb von Lukla, dem berühmten Flugplatz für die Everest-Wanderer und Bergsteiger. Edmund Hillary schreibt in seiner Autobiographie humorvoll davon, wie er diesen Hang mit Hilfe der Bauern clever einebnete.
Kul erzählt jetzt, dass eine Straße von unten hoch geplant ist bis kurz vor Lukla. Aber dann haben alle Lodges entlang des Wanderwegs, wo wir jetzt laufen, ausgedient. Arbeitslose stehen künftig da, Menschen mit Schulden, weil sie so viel investiert haben.
Bevor wir jetzt auf den Wanderweg von Lukla nach Namche stoßen, kommt uns ein europäisches Mädchen entgegen, vielleicht 19. Ganz allein läuft sie mit ihrem roten Rucksack bergab, lächelnd, fröhlich, mit einer leicht flatternden Klorolle links am Gepäck, weiß in der Sonne leuchtend.
Oben treffen wir jetzt alle Touristen, die von Kathmandu her eingeflogen sind und auch nach Namche hinauf wollen. Es sind seltsame Menschen: fast keiner lacht. Mit mieseriger Miene staken sie mit ihren Stöcken über die unebenen Steinplatten. Eingepackt sind sie vollkommen getreu dem Rat ihrer Outdoorläden: Buntes Plastik von oben bis unten, Mundschutz dazu, Sonnenbrille – der perfekte Mondmensch.
Einige haben Träger engagiert. Die schleppen überdimensionale Großraumtaschen. „Sie sollten 20 Euro am Tag verdienen“, sagt Kul, „und bekommen bloß zwischen 12 und 18. Ich traf mal einen Träger oben bei den Gokyo-Seen, der für 7 Euro pro Tag mitgegangen war. Ich hab ihm gesagt: Das reicht doch nicht einmal für dein Schlafen und Essen?“
Vielleicht haben auch diese Träger einmal ausgedient. Kul spricht schon von einer Seilbahn nach Namche, hinauf auf die 3400 m.
Wir übernachten hinter Phakding, das vor zehn Jahren ein Bauerndörfchen war. Jetzt ist es ein boomendes Zentrum mit -zig Lodges und zwei Billard-Sälen und einer Schnapsbar und Discomusik. Rundum haben neue Hotels aufgemacht, teils luxuriös gebaut. Und leer. Obwohl angeblich in der Hochsaison (März/April und Oktober/November) täglich 750 Touristen ankommen.
Wir schlafen 1,5 km weiter in der ganz einfachen „Mera-Lodge“ am Ufer des Dukhosi-Flusses, bei einem herzlichen alten Ehepaar. In dem Fluss bade ich später beim Runterweg. Sein Wasser, das so klar über die Felsen schießt, stinkt etwas.
Die letzte Hängebrücke ist neu, hoch über die alte gehängt. Der Trick beim Drübergehen ist immer, federnd zu laufen. Die Schwingungen mit den Knien abzufangen. Kul erzählt, dass sich niemand traute, diese Brücke zu bauen. Dann tat es der jüngste Bruder eines Verwandten.
Kul erzählt auch gleich von seiner Familie: Sein Großvater hatte mit seiner ersten Frau einen Sohn, den Vater von Kul. Dann lief diese Frau davon und der Opa heiratete wieder. Mit dieser Frau hatte er sechs oder sieben Söhne und viele Töchter. Von den Jungs wandten sich viele nach Indien, um in den Ghurka-Armeen der Briten oder Inder zu dienen. Sie kamen nicht mehr, nur einer. Diesen Onkel bezahlte Kul dann aus, für seinen Erbteil des Landes.
Kul selbst hat zwei Brüder. Der ältere starb unerklärlich südlich von Haleshi. Der andere ist in Indien und rührt sich seit 20 Jahren nicht.
Er hat auch fünf Schwestern. Zwei starben: Eine, nachdem sie Büffelmilch getrunken hatte. Die andere war Harkas Ehefrau und gebar ihm einen Sohn. Harka heiratete danach die jüngste Schwester von Kul.
Weil Kul der einzige männliche Sproß ist, der zuhause ist, musste er schon früh alles machen: Die aufwändigen Beerdigungen der Eltern arrangieren, alle Amtsdinge erledigen.
Am Weg nach Namche steht noch ein halbes Erdbeben-Haus. Ich schaue es an und stolpere dabei über einen dicken Stein. Fast auf die Nase gefallen. Kul erzählt passend von seiner Everest-Erfahrung als Sidar, als Leiter der Versorgungsgruppe im Basecamp für eine indische Expedition. „Drei Dinge sind beim Everest-Besteigen wichtig, habe ich gelernt: Sich nicht überschätzen, ein gutes Verhältnis zum Team und zu den Sherpas haben, und keine Fehler machen.“ Zwei Sherpas starben allein deshalb (schon im Basecamp), weil sie dem Trend der Westler folgten, gleich nach dem Aufbau des Camps viel Alkohol zu trinken. Einer trank zu viel, ein anderer sprang dann im Suff falsch.
In Namche schaffen wir es nicht, in einem der kleinen alten Hotels in der Basarstraße unterzukommen und müssen hochsteigen zum „Mountain View Lodge“, das aber sehr gut ist und billig. Unten im Dorf bilden die deutschen Bäckereien, das Irish Pub und die Pizza-Stube große Magneten für die Touristen, egal wie teuer (die Preise für Schokohörchen sind wie bei uns). Kul erkundigt sich: Der Eigentümer von „Hermann Helmers Bakery“ ist ein Nepalese. Er hat in Kathmandu mehrere Häuser. So gut klappt es mit dem deutschen Backen.
In unserem Hotel ist ein lustiger einheimischer Junge, vielleicht 20. Er kann Kartentricks und zeigt sie abends und lernt gleich noch zwei von einem schmunzelnden, feinfühligen Amerikaner dazu. Ich muss seine Tricks auch kennenlernen: „Old man!“, ruft er, „mach mit!“ „Old man!“, protestiere ich, „ich fühl mich fei noch jung!“ (Später sind indische Wanderer da. Sie haben hohe Achtung vor mir, weil ich wie die Brahmanen nur den Kinnbart weiß habe, sonst überwiegend braune Haare. Sie halten mich vielleicht für einen verkappten Brahmanen. Hohe Kaste. Höher geht’s nicht.)
Am Schluss spielt der Kartenjunge auf seinem Smartphone den Hit „Hotel California“ und singt mit sehnsuchtsvoller Stimme dazu. Mit nepalesischem Akzent. Das vergess ich nicht. So eine schöne Szene.
Später, am Runterweg, treffen wir ihn plötzlich wieder in einer der Billardhallen von Phakding. Er lacht: „I know you!“ Dann springt er rüber zum Fußballfeld unten am Bach, unglaublich sportlich, und wird von der fremden Gruppe dort problemlos fürs Kicken angenommen.
In Namche erzählt eine freundliche tibetische Ladeninhaberin, die wie eine Europäerin aussieht, wie schlecht das Geschäft läuft: „Zu viel Konkurrenz, jeder hat dasselbe.“ Zwischen April und September ist auch nur am Freitag und Samstag geöffnet, weil dann keine Touristen da sind.
Kul erinnert sich, dass er hier in jungen Jahren einmal 48 Tage lang arbeitete, als Maurer, für 80 Rupi am Tag (heute 80 Cent). Auch beim Klosterneubau oberhalb half er. Mit 4800 Rupi kam er heim. Aber er lieh das Geld einem Mann für seinen Shop und bekam es nie zurück. Weil keiner, der Geld hat, eine Bitte um Geld abschlägt. Und weil er dann warten muss, bis es der Schuldner zurückgibt. Man darf nicht danach fragen.
Kul: „Nepal hat die Reichen ganz oben, und die Armen ganz unten. Aber die Reichen könnten ohne die Armen nichts machen.“
Er erzählt aus seinem armen Leben: Als er 18 war, war er vier Monate lang der Träger für ein Geschäft in Jiri, das Gemüse in Solu verkaufte, weit entfernt. Er trug 80 Kilo und bekam pro Kilo 2,5 Rupi. Samstags kam er an und verkaufte schnell und lief montags wieder zurück. Danach war er Schafhirte, dann Maurer hier oben. Anschließend versuchte er es in Kathmandu und war zwei Jahre lang Träger in Muktinath, wo er 200 Rupi am Tag verdiente. Zurück in Kathmandu, hatten er und seine zwei Freunde kein Geld und nur zwei Brote. Sie schlugen sich nach Pokhara durch und mussten die halbe Strecke (60 km) laufen, weil sie kein Geld mehr für den Bus hatten. Dort hofften sie auf einen Verwandten und konnten auch kurz bei seinem Hausbau helfen.
Danach versuchte es Kul mit Bananenhandel. Seitdem kauft er auch jeder Frau, die irgendwo Bananen anbietet, welche ab. Er musste nämlich damals in die Wälder und nach Bananenstauden suchen. Nach einem Tag in den Hügeln brachte er sie zurück, enttäuschend grün. Da gab ihm ein Mann einen Tipp: Lege sie in einen Tontopf und gib Hefe dazu und warte sechs Tage, dann sind sie reif.
Anschließend war Kul ein Träger in Jomson, für die Route nach Tibet. Ein Kaufmann handelte hier schwarz mit Kleidung. Seine Porter mussten alles nachts über die Grenze tragen, um Steuern zu sparen. Kul schickte er abseits in den dichten Grenzwald zur Übergabe, weil Kul so muskulös gebaut war. Das musste auf die chinesischen Soldaten wie ein verkappter nepalesischer Polizist wirken. Nur Polizisten waren so stabil.
Kuls nächste Arbeit war die eines Küchenjungen bei Expeditionen, von Kathmandu aus. Weil er diesen Job zweimal gut erledigte, ernannte man ihn zur Aufsicht über die Träger. Eine Trekkingkundin war jetzt so von ihm begeistert (weil er auch schon gut Englisch sprach), dass sie der Trekkingagentur empfahl, ihn als Guide zu nehmen, als Führer. Er durfte ins Auswahlverfahren für diese Ausbildung und wurde als einziger genommen. Ab 1992 führte Kul also Touristen in die Berge.
Doch mit dem Beginn des Bürgerkriegs zwei Jahre später, den die Maoisten auslösten, ging das Geschäft zurück. „Heute gibt es in Kathmandu zu viele Agenturen, zu viel Konkurrenz und kein Geld.“
20.
Namche hat drei Museen. Sie berichten von der Dorfgeschichte. Ursprünglich hieß der Bergweiler – er wurde vor 400 Jahren von tibetischen Sherpas ausgebaut – „nauche“ = dunkler Wald. Aber schnell war alles abgeholzt und verheizt. Vor 15 Jahren pflanzte man nach, getreu der Mahnung des Klosters oberhalb: „Pflanzt Bäume! Achtet Bäume! Bäume geben Schutz und Leben.“
Die Sherpas waren vor dem Everest-Boom arm. Kul weiß noch, wie es war, als er acht Jahre alt war. Damals kamen in jedem Winter diese Sherpas herunter nach Angpang, um von Haus zu Haus Getreide zu erbetteln (es gab noch so viel Schnee, dass er Kul bis zur Brust reichte. Heute hat Angpang selten Schnee).
In diesem neu bewaldeten Naturpark oberhalb von Namche stellte jüngst ein Wilddieb geheim Fallen auf, um Moschushirsche zu fangen. Er erwischte zwei und 22 andere Tiere. Alle zwei Wochen kam er von Lukla hoch und trug die Beute nach unten. Aber den Dorfbewohnern kamen seine Wanderungen verdächtig vor. In Phakding stellte man ihn.
Namche hat auch ein Schlachthaus, voll mit Büffelteilen. Aber geschlachtet wird weit unterhalb von Lukla, bei Kharikhola. Porter tragen dann die schweren Viertel hinauf.
Wir brechen nach Gokyo auf, in die Höhe (4790 m). Vorbei am Hubschrauber-Landeplatz. Der Helicopter bringt alles, vom Baumaterial bis zum Kugelschreiber. Wir gehen Schritt für Schritt, langsamst, weil die Luft weg bleibt. Auch viele westliche Rentner sind unterwegs. Zwei sind schon käsweiß wegen des Sauerstoffmangels.
Im kleinen Nest Mongla, 3975 m hoch, ist fast kein Fremder in der Lodge. Es kommt zum frierenden, denkwürdigen Zusammentreffen von einem lustigen Hippiejungen aus Bali, einem gebildeten Chinesen aus Borneo und mir.
Tim aus Bali hat eine karibische Mutter und einen holländischen Vater. Er arbeitete sieben Jahre in einem U-Boot, mit 12 Stunden am Computer und 5 Stunden schlechten Schlafs, dann hatte er genug Geld für ein Häuschen auf Bali. Dort erlebt er gerade die Welle von reisenden Russen. Witzig imitiert er ihr gutturales Basic-English: „Wo ist market? Ich buy fruit…“
Kul erzählt noch einmal vom Everest-Basecamp: Es hat immer Luxus pur. Im Dining-Zelt („besser als im Fünf-Sterne-Hotel in Kathmandu“) steht z. B. ein toller Steintisch fürs Essen. Ab und zu muss er nachjustiert werden, weil drunter das Eis schmilzt. Daneben gibt es ein Liege-Zelt: zum Fernsehschauen. Was man sich an Essen denken kann, ist da, aber man hat keinen Geschmack wegen der Höhe. Beste Kletterer stürzen in Eisklüfte, weil sie getrunken haben.
Ein einheimischer Junge hört uns zu. Er sieht aus wie ein schräger Hippie, ohne viel Bildung. Aber in bestem Englisch erzählt er von einem Motorradsturz in Kathmandu. Zieht das Hosenbein hoch: Wunden. Kul macht es genauso: Narben. Er stürzte mit dem Motorrad, das er von „Kinder in Okhaldhunga“ bekam, um schneller nach Maidane zu kommen. Seitdem tuckert er nur noch mit 20 km/h dahin, immer bereit zum Absprung. Wo er laufen kann und Leute vermutet, geht er sowieso zu Fuß: „Ich will mich doch unterhalten!“
Diese Gespräche verschaffen ihm unendlich viel Wissen, auch hier am Weg. Ich profitiere davon: Kul ist wie eine Zeitung. Vom Wetter bis zum Klatsch (über das sauteure „Everest View Hotel“ eines Japaners, wo die Tasse Tee 11 Euro kostet) krieg ich alles mit.
Diesen Japaner, der eine Nepalesin heiratete und sich per Aktienausgabe das Hotel schuf, dann in den Kongress gewählt werden wollte, hab ich sogar mal getroffen. Vor zehn Jahren. Er lief in einer alten Joppe herum, in einer alten Lodge. Später kaufte er alle Aktien auf und heute kommt seine Tochter ab und zu vorbei, um die Hotelgeschäfte zu kontrollieren.
Kul erzählt auch von einem 160-Kilo-Mann aus dem Westen, der hier wanderte und über den Chola-Pass sollte, 5368 m hoch. Sherpa-Kollegen lästerten: „Der soll umdrehen. Der kommt da nie rüber.“ Aber Kul klemmte sich extra deshalb dahinter. „Wir brauchten vier Stunden länger. Der Mann konnte nicht auf den Weg schauen wegen seines Bauchs. Aber er hat sich nie beklagt, er war immer fröhlich. Finde mal so einen Menschen!“
Kul wechselt das Thema. Er erzählt vom Schulrektor in Angpang, Chitra. Seit 17 Jahren ist er im Dorf. Er wird von „Kinder von Nepal“ bezahlt. Jetzt ist er 40. Was macht er mit 60? Zum Bauer werden? „Er hat keine Pension. Die kriegen nur Lehrer, die von der Regierung auf Dauer angestellt sind. Dafür zahlt der Staat regelmäßig ein bisschen ein und der Lehrer auch.“
Wenn unser Verein der Save & Credit-Genossenschaft von Angpang 10 000 Euro gibt, rückzahlbar, dann könnte man von dieser Rückzahlung einige Lehrerpensionen bilden. Kul sinniert: „Aber alles klappt nur, wenn wir beide am Leben bleiben, du und ich. Was ist, wenn wir sterben?“
21.
Ich bestaune die Bodentoiletten, wo drauf steht: „Hindustan“. Und die Mineralwasserflasche mit Everestwasser, wo drauf steht: „Hergestellt mit deutscher Technologie“. Gleichzeitig denke ich über mich nach. Tim aus Bali war ideal: Einfach fröhlich leben. Ich lebe viel zu steif. Man muss mehr mitfließen, bescheiden, und was machen aus seinem hohen Status als Westmensch. Aber auch alles im Leben kommen lassen. Die nötigen Dinge werden gezeigt, der Mensch irgendwo hingeschoben.
Im nächsten Lodge „Dole View“ (4110 m) male ich abends ein bisschen. Der Sohn der Wirtsleute ist begeistert, auch von meinem wasserfesten Filzstift. Ich muss ihm damit ein Tattoo auf den Arm zeichnen. Am besten mit dem Wappen des FC Barcelona. Mach ich aber nicht. Zu grafisch. Er bekommt Blumen drauf.
Unter den Gästen ist ein amerikanisches älteres Ehepaar, nicht so sympathisch. Sie reisen dauernd in der Welt herum, mit Stammsitz in Mexico. Ich glaube, er ist der Chef einer Sekte und wirbt so Leute.
Zwei amerikanische junge Trekker kommen herein, groß, laut und unangenehm selbstbewusst. Sie erzählen von ihrem Vierwochen-Projekt, zu dem wir schon auf dem Herweg eine amerikanische Studentin interviewt hatten: Sie stellen die Alterstruktur der Dorfbewohner hier oben fest.
Ein Junge aus Frankfurt sitzt auch am Tisch, das Ideal eines Deutschen: blond, sanft, freundlich, gefühlvoll. Er war in Neuseeland für ein Jahr und will nach der Rückkehr vielleicht als Senner auf die Alm.
Nachts ist es schon so kalt (minus 10 Grad), dass das Wasser im Klo gefroren ist. Es dauert eine halbe Stunde, bis der Schlafsack warm ist. Die dicken Decken der Lodges helfen, bringen aber manchmal Läuse.
Kul erzählt: Bisher kostete ein Grundstück in diesem kleinen Dorf, das eh nur aus zehn Lodges besteht, 25 000 Euro. Jetzt sind es 75 000, mehr als in Kathmandu. Ich wundere mich, wie man von den paar Touristen so viele Einnahmen haben kann, um das abzuzahlen.
Wer nah beim Kloster ein Hotel pachten möchte, zahlt im Jahr 75 000 Euro. Aber er erwirtschaftet das Geld wieder, sagt Kul.
Wir laufen weiter nach Machhermo (4470 m) und gehen rechts ins ärmlichste Lodge, genannt „Himalayas Lodge“, weil es am sympathischsten wirkt. Mit blauem Dach statt rot. Ein Lehrer besitzt es und führt es auch, nachdem sein Pächter zuvor so schlecht war. Ein kleiner Hund namens Darli spielt herum, eine tibetische Rasse mit erstaunlich scharfen Zähnen, die nach hinten gebogen sind, um keinen Fang auszulassen. Ich reiß mir gleich mal ein Loch in die Haut, weil ich es zu spät sehe.
Kul erzählt von seinem eigenen sehr guten Hund, der aber vor ein paar Jahren von einem Leoparden gerissen wurde. Dieser treue Hund blieb immer bei ihm, auch nachts, als er noch trank – Kul stoppte dann radikal mit dem Alkohol. Sein Hund passte auch hervorragend auf die Babys in ihren Tragkörben auf, wenn die Mütter auf dem Feld arbeiteten.
Wir steigen einen Berg hoch, um uns zu akklimatisieren und kommen so auf die Höhe des nahen Gokyo, auf 4900 m. Hier berichtet Kul vom fünftreichsten Inder, den er einmal im Everest Basecamp betreute. Dieser soziale Mann maß die Füße aller Träger und Sherpas aus, von 36 Männern, und wollte ihnen ordentliche Schuhe schenken. Aber kurz vor dem Gipfelaufstieg zum Everest, nach seiner Übernachtung im Camp II, sagte er still zu Kul: „Es ist zu riskant. Wenn ich sterbe da oben, was ist mit meiner Firma?“ Kul sollte sein Gepäck insgeheim ins Tal schaffen. Er kehrte um. Die Schuhe kamen nicht.
Der Geruch in den Sherpastuben, in den alten Lodges, ist so fein und alt.
Das Wetter ist schlecht. Schnee am nepalesischen Neujahrsmorgen, 14. April. Alles ist weiß: Winter. Wir kehren deshalb um. Später hören wir von zwei Gruppen, die schon am Chola-Pass waren, auf dem Weg hinüber zum Everest Basecamp, und ebenfalls umkehrten.
Zurück im “Mountain View Lodge” in Namche. Der Vater des fröhlichen Eigentümers, ein alter Mann, sitzt endlos, Stunden über Stunden, im Eck und murmelt Rosenkranzgebete. Morgens duftet Weihrauch durchs Haus, weil das Harz, in einer alten verzierten Kanne rauchend, in den Zimmern geschwenkt wird.
Kul erzählt von seiner Jugend. Damals ermutigte ihn ein Polizist, von Angpang loszugehen und in Namche ein Sherpa zu werden, ein Wanderführer. Er bekam aber gleich den Hass der original Sherpas zu spüren. Heute sind es Männer der hohen Brahmin- und Chetri-Kasten, die plötzlich zu Trekkingführern werden und in Kathmandu die Trekkingagenturen übernehmen. Kul findet es bedenklich.
Wir gehen in eines der Cafes von Namche, die gern Filme zeigen, um Touristen anzulocken. Es ist diesmal der Film „Sherpas“. Er zeigt eindrucksvoll und mit guter Kamera den Einsatz der Bergbewohner bei einer Schweizer Everest-Besteigung. Bei diesem Gipfelsturm kommt ein Italiener um, der ohne Sauerstoff aufstieg. Vorher war er noch lachend zu sehen, sehr sympathisch. Dann tot.
Ich lese dazu ein gutes Buch: Als 1996 acht Bergsteiger in einem Sturm am Gipfel umkamen, überlebte der Amerikaner Beck Weathers wie durch ein Wunder, obwohl völlig durchgefroren. Er bemüht sich in diesem Buch, schonungslos sein Leben vor der Katastrophe darzustellen, vor dieser Ohrfeige der Götter. Er lässt seine Frau, Kinder und Freunde zu Wort kommen. Schildert sein depressives, ich-bezogenes Leben vor dem Jahr 1996. Lesenswert; ähnlich gut wie „In eisige Höhen“ von Jon Krakauer, der diese Tragödie top beschreibt.
Dieser Italiener und Beck Weathers – beide wollten vielleicht unbewusst dort oben sterben. Dieses Gefühl hat Kul.
In dem Film weint einer der einheimischen Männer, die den Westlern Jahr für Jahr ihre Gipfelstürme ermöglichen, minutenlang, als er an seine Kindheit denkt. In dieser Kindheit gab es nämlich keine Schulbildung für ihn, nur für seine Geschwister. Aber dieser Sherpa hat, das spürt man, auch ohne diese Bildung ein hohes Wissen, einen sehr guten Charakter.
In einem Museum von Namche hängt das Schwarzweiß-Foto einer schönen jungen Frau, die unter der Last ihres Tragekorbs stöhnt. Die Schönheit, die sie in ihren Gesichtszügen hat, ist mongolisch-tibetischen Ursprungs. Bis heute steht dieses Ebenmaß bei den Menschen hier in den Gesichtern. Sie haben fast alle ein vollkommenes, liebevolles, kindliches Vertrauen, ein reines, gutes Herz.
Dies spüre ich bei einem Jungen, der mir aus Versehen einen weichen Fußball ins Gesicht schießt und lacht und sich entschuldigt auf Englisch, wieder und wieder. Und bei den Portern einer australischen Wandergruppe, die so Anteil nehmend beobachten, wie einer von deren Jungs, 16, einen Allergieschub hat, zitternd. Sie bieten an, ihn auf dem Rücken nach Lukla zu tragen, durch die Nacht ins Hospital, ein Tagesmarsch.
Kul sagt später nachdenklich: „Ihr habt es gut in euren Ländern. Wenn ihr eine Allergie habt, habt ihr Tabletten. Wir haben auch Allergien, aber wir müssen damit leben.“ Er hat aber oft ein Gespür, sagt er, was bei einer Krankheit helfen kann. Doch ist es etwas Schlimmes, schickt er jeden ins Hospital. „Das ist besser als einen Schamanen zu holen. Der sitzt bloß und isst.“
22.
Bergab, zurück nach Angpang, geht es leicht. Blitzschnell sind die hohen Schneeberge von Namche verschwunden. Wir treffen Martin aus Uruguay („mein Land hat nur drei Millionen Einwohner!“) mit seiner schönen Freundin Pamela aus Chile. Martin lebte in Australien und Holland und jetzt in Indien. Aber er muss alle sechs Monate kurz raus, wegen des begrenzten Visums. Er lebt von Computerarbeit und einem kleinen mobilen Reisebüro, weil er in Indien nur herumreist. Er bietet den Menschen in Uruguay attraktive Touren in den Himalaya an.
Ich träume dann von Pamela, dass sie am liebsten raus will aus Indien, weil in einem machomäßigen Ashram Unangenehmes von ihr erwartet wird, und dass sie auch weg will von ihm.
Beide sind wie Hippies, wenn sie morgens ein altmodisches, geschnitztes schwarzes Haschischpfeifchen herumgehen lassen: Zu Daniele aus Mailand und Ruben aus Spanien. Daniele ist ein kerniger Mann, mit vier Rastazöpfchen hinten wild herausstehend, sonst geschoren. Ruben ist schmal und lang, mit einem riesen Haarblock und einer guten, guten Innenhaltung. Alle trafen sich zufällig oben im Everestgebiet und marschieren jetzt zusammen bergab.
Kul erzählt nebenbei, wie man als kleiner Nepalese große Probleme löst. So weigerte sich einmal eine Träger-Versicherung, der Witwe eines verstorbenen Trägers Geld zu bezahlen. Kul und sein Freund fuhren deshalb nach Kathmandu in dieses Büro, weil alles Telefonieren nicht half. Dort kamen sie aber nur mit Drohungen ans Ziel. Der Rechtsanwalt, den die Versicherung zu ihrer Unterstützung holte, fürchtete schnell um sein Leben und floh. Und der Versicherungsmann, der auch eine Trekkingagentur besaß, hörte jetzt: Die Route nach Tibet, die er immer anbietet, wird es bald nicht mehr geben, wenn er nicht schleunigst zahlt. Er tat es jetzt.
Am Runterweg treffen wir einen sehr klugen Porter (Träger), der mich scharf ansieht, und einen betrunkenen, dessen Fahne stark riecht. Es kommt auch ein schmaler Mann, der wie nach Mittelalter riecht, nach altem Leder.
Wir kommen an einem Idyll vorbei: Schwarze Wasserbüffel grasen in einem grünen Garten mit hohem Gras unter alten Obstbäumen, und eine alte schmale Frau, die wir schon vorher barfuß mit ihrem Tragekorb auf dem Rücken im Dorf gesehen hatten, läuft mit ihrer tiefroten Bluse langsam in diese Stille hinein. Es ist, als stehe die alte Zeit vor uns.
Die Vögel, die Bananenstauden, die Sonne, die Bauern mit ihren Hacken auf dem Feld – was haben wir daheim in Deutschland aus dem ähnlichen Garten unseres Landes gemacht? Kaufland und Lidl, zugepflasterte Höfe, Garagen. Aber hier, sagt Kul, verändert sich das Land auch schon. Vor fünf Jahren sah er noch Moschushirsche, Affen, wilde Ziegen, die schillernd bunten Fasane.
Wir gehen weiter. Kul läuft mit einer weichen Federung in den Beinen, die ich nie erreiche, weil ich nicht hier aufgewachsen bin. Er kann auch mit beiden Füßen gleichzeitig schalten beim Springen über die kleinen Felsen – ich nur mit einem.
Wir überholen eine alte Frau, so klein und braun gebrannt und hutzelig und lustig wie Aama in Braughton Coburns Buch. Sie hat den alten Goldschmuck in der Nase und ist barfuß und mit Nachbarin und Kind unterwegs. Ich frage Kul, ob ich sie fotografieren kann, ob er das übersetzt. „Klar kannst du“, sagt er. „Kein Problem. Nimm die Bananen hier, schenk sie ihnen, und dann haben sie nichts dagegen.“
Wir treffen zwei junge Kanadier, ein Mädchen aus Hamburg und einen Jungen aus Köln, der wie ein Bayer aussieht. Dann zwei Israeli, groß und arabisch, außerdem zwei Frauen aus den Pyrenäen. Dann einen jungen Hippie aus Peru. Er lacht: Wenn er den Everest besteigen würde und oben im Sturm sterben, sagt er, wegen Sauerstoffmangels, das wäre doch gut, ein gutes Sterben. Kul stutzt ihn zurecht. Er soll sich ordentlich akklimatisieren und nicht so vom Tod reden.
Abends sitzt ein anderer junger Israeli neben uns und liest Goethes „Faust“. „Wir spricht man ,Goethe‘ auf deutsch aus?“, fragt er. Er flitzt nur so den Berg hoch, weil er in Indien von einem Hund gebissen wurde und dringend nach Lukla ins Hospital muss, wo er seine dritte Tetanusspritze kriegt. Hat er alles vorbestellt.
Im nächsten Lodge spielen wir mit drei herzlichen Belgiern Karten. Laurent, schon über 60, berichtet, wie schwach er oben im Everestgebiet war. Nachts konnte er höchstens drei Stunden schlafen. Noch jetzt, bergab, fehlt ihm Kraft. „Ich bin der langsamste Wanderer von Nepal.“ Kul tröstet ihn. Er hatte nämlich einmal eine Trekkingkundin, die kroch immer erst aus dem Zelt, wenn alle anderen schon zwei Minuten weg waren.
Kul traf so viele Westler. Der beste von allen war eine Frau aus Amerika. Sie kümmerte sich beim Trekking nämlich um jeden, vom Küchenjungen bis zum Porter. Am Ende hatte sie einen Plan, wie sie ihr Trinkgeld staffelt. Aber Kul warf ihn um. Er sagte ihr: „Der Trekkingführer und der Koch müssen gleich hoch belohnt werden, und die Sherpa und die Porter auch gleich, aber weniger.“ Diese Frau buchte sogar im Bürgerkrieg noch Touren, um den Nepalesen etwas zu verdienen zu geben.
„Ich könnte ein Buch schreiben“, sagt Kul, „über alle die Leute, die ich geführt habe.“
Er könnte auch über sich selbst viel schreiben. Wie er mit elf Jahren seine ersten Schuhe bekam. Wie seine Mutter, die so früh starb, nicht nur die acht eigenen Kinder großzog, sondern auch noch fünf von ihrem Bruder.
Es gab nur zweimal im Jahr Reis und minimal Fleisch im Januar. Neue Kleider für alle waren einmal im Jahr möglich.
„Damals brauchte eine Familie Null Rupi pro Tag. Heute sind es 50 Rupi pro Kind und 50 Rupi pro Erwachsener, weil wir weniger Landwirtschaft haben. Aber in den USA geben sie für einen Hund jeden Tag fünf Dollar aus.“
Kurz vor Salleri sehen wir schon Angpang in der Ferne. Irgendein Fenster leuchtet ganz klein in der Sonne vom Hang herüber. Wahrscheinlich ist es Kuls neues Küchenfenster, aus Spiegelglas.
In einer Wegkurve steht ein weißer Jeep. „Einsteigen“, sagt Kul. Unbemerkt hat er ihn bestellt. Weil wir zu faul sind für den letzten Tagesmarsch.
Kul organisiert solche Sachen oft unbemerkt. Ich bitte ihn zum Beispiel, in Angpang die Frauen zu versammeln, damit ich ihre Wünsche hören kann. „I‘ll send a message“, sagt er. Aber davon sehe ich nix. Kein Wort, kein Telefon. Doch eine Stunde später verkündet er: „Es klappt. Sie kommen.“ Das sind die Geheimnisse Nepals.
Der Jeepfahrer, ein Freund von Kul, stoppt noch mal kurz, damit wir bei einer einfachen Frau essen können. Ihr Fernseher läuft. Ein Spiel des FC Bayern München gegen Leverkusen ist dran. Gesendet vom Privatsender der Münchner.
Gegenüber von ihrem Haus liegt der Flugplatz von Phaplu, dem Vorort von Salleri. Die Rollbahn und die Männer an ihrem Rand schauen aus wie im Wilden Westen. Alle rau, alles durcheinander.
In Angpang erlebe ich dann ein so schönes Fotomotiv und hab die Kamera nicht da: Zwei weiße Ziegen stehen an der Kante des Hangs bei Kuls Haus und hinter ihnen geht es radikal runter, öffnet sich die große Weite des Tals, dramatisch tief.
Tage später hab ich wieder die Kamera nicht zur Hand, als Kalu, Kuls Ehefrau, vor dem blauen Himmel in der Lücke von zwei Häusern vorübergeht, oberhalb. Sie trägt ein großes Bündel überdimensional großer Schilfstängel auf dem Rücken, die hellbraun und malerisch ganz hoch über ihrem Kopf wippen. Ich denke mir: ,Allein für diesen Anblick hat sich die ganze Reise gelohnt.‘
Was natürlich Schmarrn ist. Aber das kommt daher, weil ich daheim ein Buch las, wo ein verrückter deutscher Radathlet in Südafrika ein Rennen machte, dort die Sonne untergehen sah und sagte: „So ein toller Anblick! Allein deshalb hat sich der ganze Krampf gelohnt.“ ( = ein Jahr pingeligster Vorbereitung). Wahrscheinlich hätte er aber die Sonne auch im Schwarzwald so schön erwischen können.
Wir sind zu einer Hochzeit eingeladen. Kul hat überhaupt keine Lust, hinzugehen. Aber er gibt sich einen Ruck. Sein „Ach, jetzt muss ich das auch noch absolvieren!“ wandelt sich bis zum Ende des Nachmittags, weil ich dort mittanze und die Stimmung enorm hochbringe: Jeder schaut zu und eine alte Frau lobt mich zweimal intensivst, weil ich es so gut mache.
Ich hab schon mal vor vier Jahren mitgetanzt und Berge von Menschen um mich gehabt zum Zuschauen. Jetzt entdeckt mich die gleiche alte Frau wieder, die mich damals zum Tanzen gezogen hatte, und winkt verschmitzt: Mitmachen!
Eigentlich keine Kunst: Viel sanft wiegen, und sich möglichst viele Figuren ausdenken. Drum hau ich einen Schuhplattler rein und Discofox und spring mal akrobatisch in die Luft.
Frau und Mann tanzen immer getrennt, umwerben sich aber dabei. Sie können sich auch mal berühren, hab ich später auf kleinen Tanzvideos gesehen, die Kalu auf ihrem Smartphone hat (ihre Tochter Chet hat sie ihr in Japan aufgespielt und geschickt, damit sie nicht so einsam ist, wenn Kul weg ist. Aber das Smartphone bedienen kann nur Sundarsan, der Enkel. Er ist sechs Jahre alt und beherrscht es picobello).
So wird es ein ganz schöner Nachmittag. Ich tanze und tanze und darf nicht aufhören, und eine junge Frau liebt es genauso und wird lange meine Partnerin: Ganz versunken singt sie die Schlager mit, wo er und sie im Duett zur Flöte ihr Leiden und ihre Freude beschreiben. Sie schließt die Augen und wiegt sich fort, gibt mir einen Kuss durch die Luft und öffnet erst die Augen, als die ganze Sehnsucht vorbei ist.
Am Ende tanzt eine Oma mit. Sie hat ihren Hahn in der Schürze und ihre Enkelin sammelt die Küken ein und tanzt auch.
Das Brautpaar sitzt im hinteren Zimmer des kleinen, alten Hauses. Die Gäste kleben ihnen Blütenblätter auf die Stirn und spritzen Wasser. Die Braut ist in Rot und Gold gekleidet und hat die Nase voll: es ist der letzte von vier anstrengenden Hochzeitstagen.
Die Schwester des Bräutigams ist Lehrerin in der Schule. Er ist genauso klug wie sie. Das junge Paar zieht später fort aus diesem ärmlichen Haus hoch am Hang und wohnt unten im Dorf. Es ist nicht mehr so wie früher, dass die jungen Leute 15 oder 20 Jahre lang bei den Eltern bleiben.
Spät löst sich alles auf. Ich bezahle noch 10 Euro Hochzeits-Beitrag, obwohl ich nicht müsste. Er wird begeistert und dankbar angenommen. Der Kassier sitzt unter einem extra Zelt und führt genau Buch. Damit begleicht jeder die Unkosten fürs Essen für die Hunderte von Gästen.
Die 84 Familien von Angpang helfen aber auch mit. Die Hälfte sorgt für den Essens-Service und tanzt erst danach, die andere Hälfte kann sofort tanzen, räumt aber am Morgen auf.
Unter den Gästen sind alte Frauen mit dunkler Kleidung, Turbane auf dem Kopf, gewunden aus langen Handtüchern. Die jungen Frauen haben teils Rosen im Haar, wie die alten Frauen in Bakhtapur. Viele haben aber schon Leggins an und verzichten auf die bunten indischen Gewänder, die alle Frauen so schön machen. Kul: „In 25 oder 30 Jahren sieht es hier aus wie in Europa.“
Er erzählt noch von meiner alten hageren Dame, die mich zuerst aufforderte und später ab und zu lachend eine Zigarettenpause machen musste, weil sie so erschöpft war. Sie kommt aus einer niederen Kaste. Ihr Mann ist gestorben. Sie zieht zwei Töchter auf. Eines der Mädchen ließ sie früh heiraten. Es brach deshalb nach der siebten Klasse die Schule ab. Kul versuchte, das zu verhindern – ohne Erfolg. Er hält deshalb nicht mehr viel von dieser Mutter.
24.
Kul führt mich durch Angpang, um alles zu zeigen, was mit Hilfe der Spenden aus Deutschland im letzten Jahr getan werden konnte. Vorher, beim Frühstück, isst er so viel Mash (klebrigen Getreidebrei), dass er unterwegs total müde wird und in den vielen Häusern, wo wir einkehren, fast einschläft. Das kommt, weil der Magen so viel Energie abzieht fürs Verdauen.
Das „Einkehren“ geht ganz einfach: Kul ruft immer aus der Ferne an eine Hauswand hin, die komplett unbewohnt aussieht, und tatsächlich rührt sich dann was und eine Frau kommt raus aus dem Dunkel und sagt: „Kommt rein!“
Erst streifen wir bei dem Rundgang das Haus, das neu direkt vor der Schule gebaut wird. Kul hat nichts dagegen: Es wird ein Shop mit Kleinkram für die Kinder. „So kann sich eine Familie etwas verdienen.“ Aber das Haus steht ein bisschen auf Fremdgrund. Kul ist deshalb aufgebracht beim Hingehen und ich denke: Jetzt reagiert er so scharf wie früher oft in den Fällen, wenn im Dorf etwas nicht funktioniert. Aber er hat gelernt. Er bleibt ganz freundlich, als er mit den Bauarbeitern spricht.
Kul erklärt es: Der Grund gehörte seinem Großvater. Als der das Land nicht mehr wollte, betete er darüber und streute Salz auf die Erde. Damit ging es zurück an die Regierung. Ähnlich handelte man, als die kleine Fläche der ersten, alten Barackenschule oberhalb gebraucht wurde. Sie kam so aus der Privathand.
Wir gehen weiter hangabwärts und stehen vor einer kleinen Wiese, wo früher ein altes Holzblockhaus stand. Dessen Eigentümer zog hinauf zur neuen Straße, mitten in die aus dem Boden geschossene Wildwest-Raststätte. Kul: „Viele wollen da rauf. Da muss man mal für Ordnung sorgen.“
Wir kommen zu einem sehr freundlichen, ehrenhaften Mann ganz unten. Er bekam einen der Wasserbüffel, die KvN bezahlte, mit dem Ziel, das erste Kalb an eine andere Familie weiterzugeben. „Dieser Mann ist genauso aktiv wie ich.“ Auch der nächste Tee-Stop dient dem Blick auf einen neuen Büffel. Dieser Mann hier, lobt Kul, ist einer der besten im Dorf. Denn er stand immer hinter seinen Schulplänen, trotz aller Rückschläge. Als das erste Schulgebäude zusammenbrach, weil das Fundament zu schwach war, lachte er Kul nicht aus, sondern packte als Zimmermann noch mal mit an. Für die Barackenschule. Später wieder für die neue Schule.
Beim Tee im nächsten Haus bekommen wir einen Apfel, was etwas Kostbares ist, und sitzen danach, nach der Bachüberquerung, bei einem älteren Ehepaar, das seine Enkelin aufzieht. Denn die Tochter starb, als das Kind drei Monate alt war.
Es gibt noch einen anderen Fall, wo die Mutter mit ihrem Ungeborenen starb.
Dieses Haus wurde komplett neu gebaut wegen der Erdbebenschäden. Die Innenwände bestehen aus Furnierholzplatten, nicht mehr Massivholz. Das ist der neue Trend.
Wir streifen ein neues kleines Haus, mit Wellblech verkleidet, darunter ein Holzgerüst. Hier lebt jetzt eine Mutter mit ihrer Tochter, die mich beim letzten Besuch vor zwei Jahren auf der Straße angehalten hatte mit der Bitte, ihr eine Unterkunft zu ermöglichen, weil sie von ihrem Mann verlassen wurde. Er hatte eine andere Frau genommen.
Dann noch einmal Tee in einem Haus völlig im Grünen. Unterwegs gab es viel Hallo zu den Frauen auf den Feldern, die mich wegen des Tanzens vom Vortag hoch schätzen. In diesem Haus sitzt eine alte Oma. Schmal und aufrecht lehnt sie an einem Balken. Ihr runzeliges Gesicht ergibt so ein schönes Fotomotiv. Aber ich mache so etwas ungern, ein Foto aufdrängen.
Beim nächsten Teestop in einer kleinen Behelfsküche unter Plastikplanen sitzt eine Frau mit Zahnweh.
Am Heimweg fängt Kul eine kleine Ziege ein, die verzweifelt herumläuft, und steckt sie in ihren Stall zurück. Aber wutsch, ist sie wieder draußen.
Zuhause macht sich Kul einen Kaffee zum Wachwerden, obwohl ein bisschen Schlafen besser wäre. Schließlich ist er schon seit 4.30 Uhr auf, sprach sein Gebet, ackerte mit Stirnlampe herum und brach dann mit Erde an den Beinen und auf der Hose zu unserem Rundgang auf. Absichtlich schmutzig, weil es auch ein bisschen Wahlkampf ist. Die Leute sehen dann: Er ist ein Bauer geblieben, trotz seiner –zig Ausflüge nach Kathmandu.
Er erzählt: Mit unseren Spenden konnten links am Hang 13 Häuser repariert werden (fünf stehen noch aus) und rechts 22 (sechs fehlen noch). Sieben sind am Hang gegenüber fertig. Auch in Patale, wo ein Vater starb, half er einer Familie mit 600 Euro. Anderen gibt er aber erst Geld, wenn sie Baurechnungen zeigen. Sonst wird die Spende anders verwendet. Manchmal fragten auch Leute nach Unterstützung, die kein beschädigtes Haus hatten. Kul bleibt dann hart: „Es gibt nichts.“
Ich schlage Interviews mit älteren Menschen aus Angpang vor. Kul findet die Idee gut. „Mein Vater könnte viel erzählen, von seiner Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg. Er erzählte immer, wie stark sie Hunger hatten. Sie aßen in ihrer Not die toten Feinde auf.“
25.
Ich spiele mit den Kindern rund um Kuls Haus. Sie geben mir so viel Freude und Zutrauen. Und sammeln bergeweise Walderdbeeren für mich. „Please take it, for you!“, strahlen sie.
Renuka spielt mit einem kleinen handgemachten Ball. Er besteht aus Eichenlaub, an den Blattstielen zusammengebunden. Sie lacht und zeigt mir einen Geschicklichkeitstrick, den ich ihr vor zwei Jahren beibrachte: Den Arm angewinkelt hochheben, einen kleinen Stapel mit Münzen auf die Ellbogenspitze legen und dann die Hand runterhauen und die Münzen auffangen.
Ich male auch viel mit ihnen, mit Bipan (ein wahrer Künstler) und seinem Bruder Dipesh. Die verrücktesten Bilder. Ihre Mutter Chini – sie ist die erste Frau im Tal, die Lehrerin wurde – zeigt mir eine Gussfigur, die sie frisch gekauft hat, von einem kleinen neuen Handwerksbetrieb („factory“) oben an der Straße, den nicht einmal Kul kennt. Die Figur zeigt die Göttin der Erziehung. Chini hängt sie an die Wand. Sie soll das Lernen ihrer Kinder beflügeln.
Ein Poster mit dieser Göttin hängt auch im Lehrerzimmer der Schule von Meranding am Hang gegenüber, wohin wir am nächsten Tag aufbrechen. Unterwegs erzählt Kul, wie er einmal selbst einen Holzpflug schnitzte fürs Ackern. Es klappte nicht. „Dann bin ich rauf auf die Straße und hab jemanden gesucht, der es kann.“ Der sagte ihm, dass ein bestimmtes Loch tiefer gesetzt werden muss und dass vorn in die Kante etwas Hartholz rein muss.
Kul berichtet auch, als wir unten im Tal den Fluss überqueren, dass der große Stein links am Ufer etwas Heiliges ist. Denn ein Mann, der beim Straßenbau half, träumte eines Tages von einem leuchtenden Stein am Bach, mit vielen Gesichtern. Er suchte dann den ganzen Streifen ab, bis er diesen Felsen aus seinem Traum fand.
Wir klettern den Pfad zur Schule hoch. Sie liegt etwas vor Meranding (= Wald), im Weiler Ghunsa (= Fackel). Kul sagt, jedes Eck eines Dorfes hat einen Namen. Zum Beispiel heißt sein Hausplatz „Jägerhügel“, weil sein Großvater ein Jäger war. Und gleich drunter der Hang heißt „Papiermacher“, weil dort mal jemand Papier herstellte.
- C. Binod, der Schulleiter, erklärt die großen Poster an der Wand, die von St. Gervais in Frankreich erzählen, von Helfern von dort. Sie sorgten für die Schulgebäude, auch für eine Gesundheitsstation und übernahmen sogar ein Lehrergehalt. Aber ihre Hilfe wird jedes Jahr weniger. Die 16 Lehrer für die 800 Kinder (in zehn Klassen) hoffen jetzt auf etwas mehr Gehalt. Ich sage aber nur zu, drei armen Schülern zu helfen, weil es sonst doch einigermaßen klappt (so helfen wir künftig einem Mädchen mit einer schweren Handverletzung; einem Kind mit einem gelähmten Vater und einem Kind, dessen blinder Vater starb).
Kul nimmt mich dann in ein kleines, schwarz verrußtes Holzhaus vor der Schule mit, in dem sich ein Gasthaus verbirgt. Wer draußen vorbeikommt und zum Lehrerteam gehört, kriegt einen kurzen Ruf und ist auch mit drin. Sogar eine fröhliche dicke Frau setzt sich her. Sie ist die Kandidatin der Nepali Congress Partei für die „Eingeborenen“, d. h. für die Alteingesessenen, bei der kommenden Bezirkswahl. Sie hat aber gegen Kul keine Chance. Er dürfte den NCP-Sitz bekommen.
Beim Heimweg begegnet uns eine ältere lächelnde Frau, die uns sofort anspricht. Mit einer wunderbar blauen Haarnadel. Ich schaue sie genauer an: Es ist ein Kugelschreiber.
Sie wohnt in einem verfallenden Häuschen schräg gegenüber, weit weg und einsam. Weil sie keine Miete mehr bezahlen kann, muss sie ausziehen. Kul hörte davon und erbat sich KvN-Spenden, um ihr ein kleines Grundstück mit Häuschen direkt am Dorf kaufen zu können. Dann hat sie im Alter immer eine Hilfe zur Hand. Aber er fand lange keinen, der dafür ein Grundstück hergeben wollte. Erst der junge, gehbehinderte Lehrer der Schule, der sich immer auf einen Stock stützen muss, um humpelnd voran zu kommen, war einverstanden, eine Terrasse abzugeben.
Zwei Kilometer weiter wandern wir beim Rückweg im Wald an einem Holzsägeplatz vorbei. In Nepal wird gefällt und sofort per Hand gesägt. Die Säger sind Männer mit extremen Muskeln. Ihre Bretter werden momentan von Leuten aus dem fernen Okhaldhunga gekauft. Kul schüttelt den Kopf: In den Monaten bis zur Wahl liegen alle Gesetze still, die so etwas verbieten. „Wer von uns Holz kauft, sollte dem Dorf auch etwas bezahlen, damit es wieder aufforsten kann.“
Wir überqueren wieder den Bach und laden uns zum Tee bei einem Lehrer ein, der gerade sein Haus am Ufer neu baut. Alles liegt zerlegt außen herum. Die Küche ist nur ein Planenverschlag. Aber es wird schon. Vor dem Monsun im Mai muss er fertig sein.
Zurück in Angpang, streifen wir die alte Schule am Osthang. Sie war nach jeder Schneeschmelze unerreichbar für die Kinder vom Nordhang, weil die Brücke über dem Sturzbach dazwischen zerstört war. Darum baute Kul für seinen Nordhang eine eigene Schule. Sie hat jetzt 137 Kinder, die alte Schule nur 24.
Trotzdem belässt die Regierung hier die alte Lehrerzahl (Kul: „Ich weiß nicht, warum“) und ein Sponsor aus dem Ausland gab Geld, um nach dem Erdbeben neu zu bauen. Schöne Klassenzimmer entstehen, dringend nötig nach den feuchten Kellerlöchern von vorher.
Wir kehren noch zweimal zu Teegesprächen ein – ein Haus hat einen wunderbar gefegten Lehmboden – und ich denke mir am Abend: Was für ein Glück, dass ich so viele Häuser von innen sehen kann und so viele Menschen treffe. Alle diese Menschen haben abgetragene Alltagskleidung an, egal ob bedeutend – wie Reem – oder unbedeutend. Man muss deshalb in die Gesichter schauen, um ihren Charakter zu erkennen, die Persönlichkeit.
Reem ist ein älterer Mann mit einem weisen, dauernden Lächeln – wie unser Schreinermeister Günter Weibart aus Bronn. Kul sagt, er ist so ein guter, kluger Typ, dass er überall anerkannt ist – obwohl er sich nicht bindet und allen Parteien absagt, die ihn haben wollen. Ab und zu setzt er sich zu Kul in die Küche, die Knie hochgezogen, und bespricht mit ihm die Dorfprobleme. Einmal sah ich ihn auch auf der Tempelwiese seine Büffel hüten, ruhig in der Sonne.
Wir fahren nach Maidane, dem von Christine Wilhelmi und „Kinder von Okhaldhunga“ gegründeten Schulzentrum zwei Berge weiter. Von da wollen wir noch zu zwei armen Schulen laufen, die Hilfe brauchen.
Kul hat ein Tuk-Tuk bestellt, einen Vesparoller mit Kabine. Drei Mann passen rein, aber zu sechst knattern wir nach Thade, von wo es zu Fuß weiter geht. Der Fahrer probiert damit ein Geschäftsmodell: Vespa statt Jeep. Sein Vater, der in Indien Geld verdiente, kaufte ihm das Ding. Kul: „Der Vater ist stolz geworden, als er heimkam. Er zog von Angpang weg.“
Thade ist ein ärmliches Dorf, aber Kul sagt, es ist stinkreich. Sieht man bloß nicht. Es ist ein Bus- und Jeephalt, und die Gäste essen immer in den kleinen Lokalen.
Wir laufen quer übers Land nach Maidane. Kul: „Denk dran, wie oft hier Christine gelaufen ist.“ Christine Wilhelmi, die Gründerin des Schulzentrums von Maidane, war in ihrem Leben 47 Mal in Nepal, also vielleicht 45 Mal.
Ich war einmal in Maidane, vor zehn Jahren, und erkenne nichts mehr wieder. Das Häuschen, wo ich übernachten konnte, ist zu einem Langbau angestückelt worden. Die Schule hat jetzt eine Mauer rundherum. Der Glanz von damals ist weg. Denn „Kinder von Okhaldhunga“ (KiO) übergab vor wenigen Jahren alles an die Regierung.
Trotzdem sorgt KiO noch für die weitere Ausbildung der Jugendlichen und wir bezahlen zwei Lehrer, Diwas Rai und Sarmila Magar.
Im Lehrerzimmer bekommen wir viele Wünsche nach Unterrichtsmaterial mit auf den Weg. Aber ich sage extra, weil ich weiß, wie viel gutes Schulmaterial in Angpang ungenutzt im Eck liegt: „Da oben auf dem Schrank steht ein Globus, verstaubt. Er stand schon vor zehn Jahren so da. Bitte macht was mit den Dingen, wenn wir sie kaufen. Wenn zum Beispiel ein neues Harmonium da ist, möchte ich beim nächsten Besuch auch Musik hören.“
Die Lehrer sagen aber, der Globus ist feste im Einsatz. Der Staub ist neu. Er liegt auch auf den Tür- und Fensterrahmen der einfachen Klassenzimmer. Aber wäre ich Lehrer hier, hätte ich sie längst einmal gestrichen, denke ich.
Kul als geborener Architekt entwickelt angesichts der trostlosen Interieurs der Schulzimmer sofort Verbesserungsideen. Rektor Bhuwa Bahadur Magar sagt aber, das reicht nicht. Die Zimmer müssten auch verbreitert werden. Denn wenn das Modell „10+2“ kommt, d. h. zwei Praxisjahre nach zehn Klassen Schule für die 300 Kinder, braucht er Platz. Dieses Modell muss die Schule vier Jahre lang selbst stemmen, dann übernimmt es die Regierung. Das war zumindest in Kerung so.
Kul ist von KiO beauftragt, in der Schule zweimal im Monat nach dem Rechten zu sehen. Aber seine Vorschläge werden erst jetzt langsam angenommen. Darum ging er auch mit Widerwillen zum Lehrergespräch (16 Lehrer gibt es) und tat davor etwas, was er bei schweren Gängen immer tut: Erstmal Tee trinken. Im kleinen, dunklen Dorfgasthaus. So eine Teepause gibt ihm Kraft.
Von diesem Gasthaus aus sieht man eine gewaltigen, modernen Neubau oberhalb der Schulmauer: Ein junger Mann hofft, mit diesem Betonkomplex ein Restaurant gehobener Kategorie auf die Beine zu stellen. Ich sehe aber keine Kunden dafür in dem kleinen Maidane. Kul schon: „Die aus dem Dorf gehen auch hin.“ Für ihn ist die 1990 aus der Tundra gestampfte Ansiedlung schon eine Stadt.
Beim Tee erzählt Kul von den miesen Lehrerworkshops der Regierung. Diese bietet drei pro Jahr an, aber ohne Material und kurz: Fünf Tage, obwohl auf dem Papier zehn Tage stehen. Besser macht es die englische Organisation „Read Nepal“ (Nepal, lese!). Wer dabei war, führt danach an seiner Schule „brain-gym“ ein (beim militärischen Morgenappell der Schüler) und hängt Unterrichtszeichnungen bunt und quer durchs Klassenzimmer.
Als verhinderter Künstler ermutige ich Rektor Bhuwa sowieso, mehr Farbe in die Klassenzimmer zu bringen. „Die Kinder müssen sich wohlfühlen, damit sie gut lernen.“ Es gibt nämlich nur kantiges rohes Steingrau.
Kul unterstützt das. Die Lehrer sollten mehr mitarbeiten, als nur zu unterrichten, sagt er.
27.
Beim Weiterwandern erzählt Kul etwas Interessantes. Es gibt in Nepal ein berühmtes ungedrucktes Buch, aus dem man seine Vorleben erkennen kann und die Gründe für seine heutigen Lebensprobleme. Sein Großvater besorgte es sich einmal, weil er an einer schlecht heilenden Wunde an der Seite litt. Er fand heraus, dass sie daher rührte, weil er in einem Vorleben einen Hirsch schlecht geschossen hatte, nur an der Seite verletzt.
Ein Brahmane, der es trotz vieler Frauen nicht schaffte, einen Sohn geboren zu bekommen, entdeckte aus dem Buch: Der Grund dafür ist, weil er einmal in einem Vorleben einen Neffen ermordet hatte.
Um solche Sünden zu beheben, kann man einen ganzen Tag lang beten oder an neun Tagen Opfergebete abhalten.
Kul über sein eigenes Leben, allem Stress zum Trotz: „Ich bin nicht arm; ich hab ein schönes Leben.“ Aber er sagte später einmal, dass kaum einer im Dorf, auch nicht seine Freunde, erkennen, wie unbandig viel er überall tut.
Was ihm enorm Zeit kostete, war das Spendenverteilen für die Erdbebenschäden. Sein Kriterium war dabei: Ist einer faul, kriegt er nix, und hat jemand innerhalb der letzten 30 Jahre viermal sein Haus neu bauen müssen, dann kriegt er viel.
Ein Alkoholiker meckerte ihn einmal in einem Kleinimbiss an, er bräuchte auch Geld. Kul bekam fast Angst, von ihm angegriffen zu werden. Er sagte nur „Ich werde das prüfen“ und witschte raus. „Der Mann ist stark, er hat einen Sohn, der ihm helfen kann.“
Aber Kul verurteilt aus eigener Erfahrung keinen, der zum Suff kommt: „Jeder Gute kann schlecht werden, und jeder Schlechte gut.“
Stress hat Kul auch wegen der Schule. Er erzählt zum Beispiel die Odyssee, um für eine einzige Lehrerfortbildung an etwas Regierungsgeld zu kommen. Zusammen mit Harka wurde er in Kathmandu vom Amt zu Amt geschickt. Fünfmal hörten sie Ausflüchte, fünfmal gab es neue Amtszuständigkeiten. „Am Ende waren wir da, wo wir am Anfang auch waren.“ Und es kamen nur vier Tage Fortbildung heraus. „Zwei davon waren Feiertage.“
Bei so einer Debatte über mögliche Fortbildungen traf Kul in Maidane einmal den Schulleiter von Patle, einem kleinen Dorf auf der Spitze eines Berges. Dieser Lakpa Sherpa schien ihm krank zu sein, nervenzerrüttet. Er war es, hörte er, weil er nicht mehr wusste, wie er seine Lehrer finanzieren sollte. Er hatte schon Touristen angesprochen, und sie sagten immer etwas zu, aber es geschah nichts.
Als ihn Kul nun anrief und seinen Besuch mit mir ankündigte, konnte Lakpa es kaum fassen: Kul hielt sein Versprechen!
Lakpa, ein feiner und menschlicher Mann, holt uns jetzt in Maidane ab für die Wanderung hinauf in sein Dorf. Sie ist eine Tortur wegen des Tempos, aber wir kommen durch die schönste Gegend, die ich bisher in Nepals Bergen gesehen habe. Dann die Schule: Sie liegt ganz oben und der Blick geht auf nebelumwobene Hügel tief unten, als sei man in einem Bild chinesischer Malerei.
Unser Tempo ist nötig, weil oben schon alle Lehrer und Kinder und Dorfvertreter, Frauen und Männer, hinter einem extra mit Grün beflochtenen Torbogen warten.
Die Schulgebäude sind die einfachsten, die ich bisher in Nepal gesehen habe. Drei liegen hinter dem Pausenhof in Trümmern, wegen des Erdbebens. Dafür stellte Lakpa einen Antrag bei der indischen Botschaft, die Aufbauhilfe gibt. Aber wann. Auf welchem Platz steht er auf der Liste?
Über den Hof pfeift der Wind. Er treibt Sand in die Augen. Immer. Patle liegt einfach zu hoch, auf 2548 Meter.
Wir setzen uns in den Schutz der vorderen Schulbaracke. Die Kindermenge (330 Mädchen und Jungen) vor uns kriegt den ganzen Staub ab. Kul übersetzt: Sechs Lehrer bezahlt die Regierung, sechs müssen frei finanziert werden. Lakpa sammelt dafür jedes Jahr im Dorf – „es sind Bauern, wer hat da Geld?“ – und bekommt auch etwas vom „Verein der Schulabgänger“, manchmal vom Dorfentwicklungskomitee und etwas vom „Poor Child Fund“, der arme Kinder unterstützt.
Ideal wäre es, wenn „Kinder von Nepal“ das Gehalt eines Grundschullehrers übernehmen könnte (3000 Euro im Jahr) oder eines Hauptschullehrers (4200). Ich sage ein Gehalt zu, eventuell zwei, je nach unseren Möglichkeiten. Die Frauen und Männer klatschen begeistert.
Die Frauen haben zwei Müttergruppen (41 und 27 Mitglieder; 87 Häuser hat das Dorf). Ihnen können wir helfen, wenn wir jeder Familie eine Ziege kaufen. Das Laub rundum reicht für ihr Futter.
Eine Frau bittet um eine Gesundheitsstation, weil die nächste (von Nepalmed betrieben) zwei Stunden entfernt ist. Genauso lang laufen viele der Schulkinder hierher. Ich schreibe Nepalmed an, als ich wieder zuhause bin. Ja, antworten sie, wir helfen gerne, aber wir brauchen vor Ort alles zuverlässig vorbereitet: Mit einem Ansprechpartner, mit einem Raum, mit einem Health-Assistent. Und das ist in Nepal nicht so einfach.
Wir fragen Lapka, ob wir noch arme Kinder unterstützen können mit je 130 Euro im Jahr. Die Lehrer und Eltern rundum diskutieren und haben schnell Namen bereit: Lhamu Sherpa stammt aus einer Familie ohne Land. Anusa Briyar lebt ohne Vater weit weg. Binod Magar hat eine Mutter, die für vier behinderte Schwestern sorgt. Ihre eigenen zwei Kinder haben Augenprobleme. Soni Sherpa ist Halbwaise, ohne Vater. Mingmar Sherpa hat einen Vater, der hinkt und ohne Arbeit ist.
Lakpa zeigt uns noch die Klassenzimmer. Sie sind wie Gefängnisverliese. Sogar das Lehrerzimmer ist erschreckend einfach. Kul entwickelt sofort Verbesserungspläne und ist froh, dass Lakpa so weitsichtig war, ein bisschen Land unterhalb dazu zu kaufen, raus vom Wind, falls die indische Botschaft baut. Die Bezirksstadt Okhaldhunga weit unten und weit weg, schickt auf jeden Fall mal einen Traktor mit Baumaterial für zwei Klassen.
28.
In Patle, in diesem Dorf hoch oben auf dem Berg, wo es unten herum so schön grün ist wie in Bali oder Vietnam, sage ich den Frauen der Müttergruppe, dass sie auf geschälten (weißen) Reis verzichten sollen, weil er Diabetes auslöst, und dass sie mehr Müll aufsammeln müssten. Das mit dem Reis hatte ich bei den Müttern in Maidane vergessen zu sagen. Dort waren zwölf Frauen zum Gespräch gekommen, sehr interessiert. Hier sind es mehr.
Ihre Kinder verstreuen auf dem Schulweg ganze Hefte, mit Freude zerrissen. Über das Papier sind sie im Dauerlauf dahingejagt, als ich ankomme: Blumen in der Hand die Jungs, die Mädchen mit Blumen im Mund – für mich, zur Begrüßung. Es sind Kinder mit festem, entschiedenem Gesicht. Sie brauchen keinen Halt von „Kinder von Nepal“, bloß eine gute Schule.
Sie haben sowieso etwas Gutes: Dieses Leben hier, so schön auf dieser Höhe. Der Blick in die Wolken, hinunter auf die endlosen Bergwellen. Er trägt sie durchs Leben. Die Erinnerung an ihre malerische Kindheit bleibt, auch wenn sie einmal in Kathmandu sind, das mir von hier aus wie zerrüttet vorkommt.
Aber Kul meckert: Sie sollen nicht nach Kathmandu. Ich sage: „Das ist normal. Jeder will dahin. Wenn du mal 40 Jahre lang Kathmandu-Verbot hättest, wärst du unglücklich. Du fährst so gerne hin.“ „Aber nur für fünf Tage!“ „Genau das brauchen die Dorfkinder auch: Fünf Tage. Sonst versauern sie.“
Auch die Familie des Schulleiters Lapka zog mal weg von ihrem Dorf. Vor 400 Jahren. Nämlich von Kerung (gleich neben Angpang) hierher. Sie zog auf diesen damals kahlen Hügel, mit 60 Stück Vieh.
Zum Vieh-Zählen sagt Kul etwas Interessantes: Sein Großvater hatte nämlich sieben Pferde, 30 Büffel und 700 Schafe und Ziegen. Aber man zählte diese Tiere nicht mit Zahlen, sondern über ihre Ohren oder Hörner.
Heute ist oft das Vieh weg und der Laptop da. Auch in Lapkas Haus, wo wir bei seiner Frau Jeema und den Kindern Yangjila und Sonam übernachten, läuft ein Fernseher. Inmitten einer rußgeschwärzten Wohnküche, uralt, unter einem mit Steinplatten gedeckten Dach. Es ist wie in der Küche aus dem Jahr 1700 eines österreichischen Bauernhofmuseums.
Auch unser Wandern hier versetzt in alte Zeiten, als wäre ich ein Afrikareisender um 1900. Als würde ich nicht in einem Buch drüber lesen und mich hindenken, sondern dabei sein: Erschöpft, von der Hitze gebraten. Bloß ohne Gefahr. Kein Tiger ums Eck. Alle erschossen. In Massen. Vor 100 Jahren von der High Society.
Jeema gibt uns selbst gemachtes Pema mit für den Rückweg, eine Kostbarkeit. Den Weg müssen wir suchen, weil Lapka nicht da ist. Oben auf dem Berg läuft die Straße, sagt seine Frau, ihr findet sie bestimmt. Tun wir nicht. Aber ich hab unterwegs mehr Logik als Kul, merke ich. Das ist die westliche Verstandesprägung. Dafür fehlt mir sein superscharfes Auge. Wir steigen über gefallene Bäume und rauschen durch Gebüsch. Dann laufen wir lange über diese neue Straße. Der erste Teestop ist in einer Rinderhirten-Hütte am Weg, nur für die Hütesaison von zwei Frauen bewohnt. Ihre Kinder sehen sie das halbe Jahr nicht. Eine der Frauen ist für Kul das Ideal einer Frau, merke ich. Drum der Stop.
In der nächsten genauso provisorischen Hütte lebt ein junges Paar mit seinem Baby. Der Vater ist echt nepalesisch: Gut aussehend und lachend und klug. Die Mutter macht uns Spiegelei mit Tomaten und Zwiebeln. Ihr ist der Stolz auf das Kind anzumerken, mit dem eine andere Frau spielt.
Wir laufen an vielen heiligen Felsen vorbei, die mit weißen Begrüßungsschals behängt sind, von Wind und Wetter zerzaust. Einer der Steine ist ein Frauenplatz.
Kurz vor dem Dorf Japre liegen rechts rote Eisengestänge in einer Waldfurt. Sie sollten nach Patle gebracht werden, zum Bau von Schulzimmern. Aber der Lastwagen versumpfte im Regen. Man lud alles ab.
Weit entfernt sehen wir Kerung. Kul erzählt, dass dort ein Krankenhaus geplant war. Aber es scheiterte, weil ein Bauer zu viel Geld für sein Grundstück wollte. „Crazy Kerung!“ Ebenfalls am Hang gegenüber steht entfernt ein großes Haus. Der Mann plante es mit 55 Türen und Fenstern genauso wie im Königspalast von Bhaktapur. Er wurde deshalb bestraft.
In Japre übernachten wir bei einem alten freundlichen Mann. Ich lege mich mit der letzten Sonne in die Wiese der Herberge, höre die Vögel und eine Motorsäge. Denke an die Rhododendron-Pracht überall, an den weiten Blick, den jedes Haus hat, über die endlosen Vorberge des Himalaya. Sie scheinen nicht aufzuhören, auch nach Indien hin, obwohl dort die trostlose Ebene anfängt.
29.
Auf dem Weg nach Bagam, zur nächsten armen Schule gleich neben Kerung, übersetzt Kul ein bisschen die Ortsnamen. Patle (Phalate) ist zum Beispiel der „flache Platz“ oder „Eichenplatz“. Maidan heißt genauso „flacher Platz“.
Er erzählt von den Familien, die nur noch zwei Kinder haben. Dies ist kein Zwang der Regierung wie in China, aber ein unausgesprochener Wunsch des Staates. „Aber was ist, wenn eins der Kinder stirbt?“ Wie soll später ein einzelnes Kind seine Eltern versorgen?
Zum Tee stoppen wir in einem Haus mit kleinem Laden, wohin die jüngste Schwester von Lapka geheiratet hat. Sie ist eine ernste Frau. Am Tisch neben uns sitzt ein alter schmaler Mann und isst einen Keks. Er lief an diesem Morgen – es ist 11 Uhr – schon von Japre nach Pattale Bazar (hinter Angpang) und zurück, meilenweit. Kul: „Das sind hier alle alten Leute gewöhnt.“
Kul spricht über Angpang, was er und seine Freunde dort alles aufgebaut haben, mit Schule, Strom, Straße, Genossenschaftsbank. „Und was machen unsere Kinder? Vergammeln sie, weil nichts mehr zu tun ist?“ Er hofft auf ihren guten Charakter.
Kul nennt nepalesische Sprichwörter: „Dein Mitmensch gibt deinen Wert an, nicht du.“ – „Sage deinem Feind immer die Wahrheit.“ „Schau nicht ganz weit voraus, aber sehr weit zurück.“ – „Sei wie der Bambus: Wenn du viel erreicht hast, neige dich bescheiden zu Boden.“ (weil sich die dünne Bambusspitze immer nach unten biegt)
In Bagam (sprich Bakum) wartet wieder ein mit Grün geschmückter Torbogen vor der Schule auf uns. Der Bürgermeister ist da, ein älterer Mann, der in Indien in der Armee war. Und Man Bahadur Magar begrüßt uns, extra von Kathmandu hergekommen. Er ist ein immer lachender, weichherziger Trekkingführer aus diesem Dorf mitten im Grün, der bei seinen ausländischen Kunden wirbt und wirbt, damit sie der Schule hier helfen. Eine Frau aus Taiwan sammelte deshalb schon bei über 20 Freunden für das Schuldach. Aber der Kontakt zu einer deutschen Frau, die bei der UN in Indien arbeitet, blieb irgendwann ohne Antwort.
Sieben Lehrer unterrichten hier 150 Kinder in acht Klassen. Es waren einmal neun Lehrer, aber zwei gingen, weil sie zu schlecht bezahlt wurden. Die 110 Familien von Bagam sollen genau wie in Patle einige Lehrer selbst finanzieren. „Aber von jedem Haus Geld dafür zu sammeln, ist schwer“, sagt Man.
Wir versprechen kein Geld in Bezug auf die Lehrergehälter, weil ich nicht weiß, ob KvN auf Dauer so viel hat. Aber wir nehmen wieder eine Liste von armen Kindern mit für eine jährliche Unterstützung mit je 130 Euro. Parbati Magar (12) steht darauf, ein dünnes Mädchen, dem einmal ein schwerer Stein auf die Schulter fiel. Seitdem ist ihre Hand unbeweglich.
Weiter sind es die Geschwister Ubaraj und Sarkini Shrestra, deren Vater gelähmt ist und der kein Haus besitzt, kein Land. Dann Sanita Bki, die bei einem Feuer in ihrem Haus verletzt wurde. Und Soni Maya Magar, die von Geburt her eingeschränkt ist. Schließlich Saraj Magar, deren Vater „wie ein Ochse“ schwer arbeiten muss, untergeordnet. „Er hat drei Kinder und kann kein Schulgeld bezahlen.“
Die Müttergruppen wünschen sich noch einen Healthpost, eine Gesundheitsstation. Und eine bessere Wasserversorgung.
Beim Rundgang durch die Klassenzimmer regt Kul einige Oberlichter in den Wellblechdächern an und ich mehr Farbe an den Wänden. Man Bahadur hört sich das alles an und nennt seinen Hauptwunsch: Drei Zimmer ganz abreißen und neu bauen. Wie teuer ist das? „Es ist nicht mehr so billig wie vor zehn Jahren. Die Preise sind hochgegangen. Vielleicht 20 000 Dollar.“
Er erzählt von den Frauen im Dorf. Sie durften früher nicht zur Schule gehen. Davor gab es nicht einmal eine Schule. „Die alte Generation kann nicht lesen und schreiben. Sie kannte lange kein Flugzeug oder Auto.“
30.
Wir laufen nach Angpang. Kul erzählt viele kleine Dinge. So von einem Tempel in der Nähe in einem Dorf, der einen heiligen Stein hat. Ein Mann schlug einmal auf diesen Stein, was in Kathmandu Schlechtes auslöste. Der Stein musste mit weißem Puder gereinigt werden, dann gab es eine Pause, dann eine Anbetung. Sogar der Ministerpräsident schickte einen Gebetsauftrag, um Kathmandu zu schützen.
Einen Tagesmarsch von Angpang entfernt liegen drei Steine auf der Höhe, wo ein Vater an seiner Feuerstelle zwei kleine Töchter tötete, weil er sie ins Flachland des Terai gegeben hatte und sie immer wieder nachts unerklärlich zurückkamen. Dort gibt es bis heute Tieropfer, aber der Priester weiß, dass sie nicht wirken, wenn unterhalb ein Feuer brennt, im Umkreis von 20 Minuten Fußweg.
Im Bürgerkrieg, der 2006 nach zwölf Jahren endete, ohrfeigte einmal ein Maoistenführer einen Priester, weil er betete. Der Priester gehorchte still seinem Befehl, mit dem Beten aufzuhören, und betete am nächsten Tag weiter. Aber der Maoistenführer wurde später erschossen.
Zu jener Zeit musste Kuls Cousin Rudra fünf Maoisten in seinem Haus bewirten. Beim Gebet zum Essen akzeptierten alle bis auf einen die weiße Tika auf der Stirn, ein Gemisch aus Milch, Zucker, Salz und Kuhurin. Dieser eine Maoist starb beim Weitermarsch, weil in seinem Rucksack eine Granate explodierte.
In Angpang gibt es neben dem neuen Tempel zwei uralte Waldtempel unter dicken Bäumen, gebaut lange vor dem Hinduismus. Der Sage nach sind es zwei von sieben Schwestern eines Brahmanen, die älteste und die jüngste. Zwei andere leben am Berg Pikey (4060 m). Die übrigen in den Hügeln rundum. Ein Mann aus Angpang, dessen Frau todkrank war, betete hier um seine Frau. Aber sie starb. Wütend ging er zu den alten Tempeln und schlug ein Stück Stein heraus. Kul: „Seine Familie ist heute nicht mehr da.“
Ein Mönch aus Angpang starb und wurde weit entfernt wiedergeboren. „Aber seine Kinder können ihn nicht herholen, weil sie kein Geld haben. Sein Sohn hat auch alle Sachen verkauft, die man ihm vorlegen muss, damit er sie als Besitz aus seinem Vorleben erkennt. Ist das nicht schlimm?“
Kathmandu ist öfter von Streiks betroffen, die den Verkehr lahm legen. Einmal dauerte er 19 Tage. Kul und seine Freunde kamen aus den Bergen und wollten zur Stadt. Sie machten sich zu Fuß auf, 200 Kilometer in sieben Tagen. Als geschulte Trekkingguides schafften sie am ersten Tag 46 km, dann 39, dann 26 – und hatten wunde Füße. Mit den Schuhen auf den Schultern, mit Wasserstau in den Beinen, kamen sie k.o. an. „Mein Großvater lief in vier Wochen, wofür wir heute sechs brauchen, vom Mustang ins Solu.“
Seine Frau Kalu hat zwei rauflustige Brüder, die beide verschwunden sind. Ihre Eltern arbeiteten sich mühsam hoch, um auch die fünf Töchter durchzubringen. Zwei dieser Mädchen leben jetzt in Indien, eines in Bagam, und das älteste in einem einsamen Haus am Pfad zwischen Maidane und Patle. Wir hatten sie kurz besucht und ich bestaunte die Idee, die Zahnbürsten außen einfach in Löcher der Hauswand zu stecken.
Kul hatte einmal, als er um die zwanzig war, nur noch 120 Rupi. 54 davon investierte er für den Bus von Jiri nach Kathmandu. Der Rest reichte aber dort nur für einen Tag. Dann hoffte er auf göttliche Hilfe. Sie kam: Er fand einen Trekkingauftrag. Seitdem sagt er jedem Verzweifelten: „Hab Geduld. Es kommt eine Chance.“ Von seinem Trekkingverdienst kaufte er elf Gramm Gold für seine Frau. Früher wurde daraus Nasenschmuck gemacht. Er war der Rückhalt für schwere Zeiten.
Vor 46 Jahren – Kul ist jetzt 50 – war in Nepal ein extremes Hungerjahr.
Rudra übernahm einmal den Kauf einer neuen Turbine für das Wasserkraftwerk von Angpang. Sie sollte extrem mehr Strom bringen. Einige reichere Familien kauften sich schon mal vorausschauend Reiskocher und kleine Kühlschränke. Aber Rudra hatte die Kilowattzahl zu gering gewählt. Kul: „Ich bin mit so einer Angst in diese Versammlung gegangen, wo wir dem Dorf sagen mussten, dass der Strom nicht reicht.“
Auch die Nudelfabrikation, die ich vor zwei Jahren gesehen hatte, steht still, weil die Maschine zu viel Strom verbraucht. Wenn sie läuft, geht überall das Licht aus.
Kurz vor Angpang treffen wir eine ganz einfache Frau in einem Restaurant an der Straße. Kul unterhält sich extra mit ihr. „Obwohl sie wenig versteht, ist sie wichtig. Sie ist die zweite Vorsitzende meiner Partei.“ Später holen wir ein Bündel kleiner Wahlfahnen ab, aufgerollt, die ein Freund von Kul in seinem Haus aufgehoben hat. Kuls Wahlhelfer verteilen sie dann.
Ich träume, dass Bipan (12) sagt: „Wo sind die Spiele, die du letztes Mal mit uns gemacht hast? Warum hast du keine Zeit mehr?“ Prompt streiche ich Kuls Wunsch, auch noch zum Berg Pikey aufzubrechen und bleibe im Dorf, um mit den Kindern zu spielen. Bipan macht alles mit, Renuka auch, braungebrannt und klug in allen Spielen. Bogenschießen, Speerwerfen mit Bambus, mit Schleudern auf leere Plastikflaschen schießen, Lenkdrachen und Wippen und Stelzen bauen (Stelzen sind unbekannt), etwas LandArt im Hof legen aus alten Holzstücken – die Eltern stehen mit verschränkten Armen in den Türen, lachen und staunen. Kul: „Wir bestellen ein Taxi und fahren deine LandArt nach Kathmandu. Da verkaufen wir sie teuer.“
Am letzten Tag fällt mir nix mehr ein, obwohl Puman, Indira, Anusha, Sundarsan, Renuka und Bipan betteln: „Another game!“ Noch ein Spiel! Ich stecke Äste in den Boden, jongliere Rinde drauf, lege eine Steinschlange durch die Reihe und dabei wird es dunkel. Die Kinder genießen diese Schlange. Sie setzen sich auf den Hang und singen, Anusha (5) tanzt mit den weichen Bewegungen der Frauen. Bipan lehnt sich ins Gras. Eine so frohe Stimmung. Bis die Nacht kommt und die Mutter von Puman aus der Ferne nach ihr ruft.
31.
Kul nimmt mich mit zu einer Erntefeier. Die Eltern von Bishnu, dem immer herzlichen, so angenehmen Schreiner, richten sie im nächsten Dorf in ihrem Garten aus. Es ist ein Gerste-Fest, am Ende der Ernte, für Segen für die kommende Zeit.
Die Familien legen übers Jahr immer eine Handvoll Körner zurück, um damit den Brahmanen zu bezahlen oder es Armen zu geben. Diesmal sind vier Brahmanen dabei. Der älteste liest endlos vor, die jüngeren passen auf, dass er nichts vergisst. Körner werden geworfen, alle ziehen ums Haus und Frauen bestreuen eine protestierende junge Kuh mit roter Farbe. Sie gehört dann dem Chef-Brahmanen. Er kann sie verkaufen.
Die Brahmanen, sagt Kul, sind schwer zu bewirten, weil sie weder Zwiebeln noch Huhn oder Knoblauch essen dürfen. Sie dürfen auch nicht pflügen, können also nicht für ihr Essen sorgen. Taugt einer nix, wird er nicht geholt. In Kathmandu gibt es berühmte Priester, die ihren Söhnen ihr Wissen weitergeben.
Die kleine Festversammlung ist ein malerisches Bild. Jeder bemüht sich um mich. Diese Freundlichkeit, dieses Lächeln. Ich denke: Jeder, der lächelt, ist gleichwertig als Mensch, egal ob er ein Afrikaner ist oder ein Aborigine.
Nur sammeln die Menschen in den armen Ländern in der Natur für ihren Unterhalt und pflanzen an. Wir gehen zum Geldautomat und zur Tankstelle.
Zwei Tage später sind zwei Hochzeiten. Die Brahmanen legen die günstigen Tage dafür weit im Voraus fest. Ganz Kathmandu heiratet also an diesem Tag. Kul weiß nicht, zu welcher Feier er gehen soll. Am Ende schickt er seine Frau zu der einen und uns zur anderen, unterhalb vom Erntefest.
Dort sammeln sich Massen im Hof des Hauses der Braut, alle in ihren besten Kleidern. Enge Verwandte tragen luxuriöse indische Saris. Alle warten auf den Bräutigam, der von seinem weit entfernten Dorf herläuft, von Freunden begleitet. Sein Brautgeschenk ist ein riesiger Flachbildfernseher. Er wird später über die Köpfe der Menge zur Braut jongliert.
Unter den neugierigen Gästen ist auch Diane aus San Francisco, eine freundliche ältere Frau. Sie fällt interessanterweise überhaupt nicht auf als Weiße, weil sie eine solch innere Nähe zu den Menschen hat. Sie hilft seit dem Jahr 2000 im nächsten Dorf unterhalb.
Sundarsan, ein Mann von vielleicht 40 Jahren, ist dort für sie das, was Kul für mich ist: Der Denker des Ortes Pekarnas. Ohne ihn geht nichts. Seine Schwester ist in der Kreisstadt Salleri die Frauenrechtlerin und kandidiert für die Partei der Frauen. „Eine gute, starke Frau“, sagt Kul.
Eine mollige, einfache Frau beginnt jetzt zu tanzen. Sie lacht und lädt umsonst ein, mitzumachen. Alle schauen nur zu. Ich denke mir: „Überwinde dich. Denke an das Gedicht von Jorge Borges, der mit 85 Jahren rückblickend sagte: „Ich hab im Leben viel zu wenig Verrücktes gemacht.““ Also tanze ich mit. Sofort auch die noblen Frauen in ihren goldenen Saris. Und Diane. „You have started something“, sagt sie lächelnd.
Draußen am Weg spielen vier Musiker, am Boden sitzend. Drinnen strahlt ein 16-jähriges Mädchen immer wieder inmitten ihrer Freundinnen auf, oben auf einem Zaun, mit gutem Ausblick. Ihr Lachen macht sie zu einem Supermodel für Vogue. Jeder wird mit einem Lachen schön, lerne ich.
Und denke mir: Was hab ich ein gutes Leben. Sehe sowas. Habe keine Folter, keinen Krieg, keine Armut. Bin aber ein schwebender Träumer. Komme nicht so runter zur Erde. Hab nicht den Ernst von Rudra, Kuls Cousin, der gestern so besorgt von seinem Hausbau erzählte: 13 000 Euro teuer, drei Monate lang täglich die fünf Jungs aus Beli Danda oben an der Straße bezahlen, die alles so schön machen, so behende sportlich, in Jeans und Turnschuhen: Mauern bauen, Dachstuhl setzen, Mörtelmischen fürs Verputzen, Innenausbau.
Aber Rudra baute sein Haus zu groß. Und hilft selbst zu wenig mit. Und kaufte sich einen Flachbildfernseher statt zu sparen. Kul versteht ihn auch nicht: Warum lässt Rudra alle seine Terrassen unbeackert? Warum ist er bei Dorfaufgaben nicht verlässlich?
Auf der anderen Seite: Rudra und seine Frau Chini haben Suresh aufgenommen, einen geistig etwas behinderten Verwandten, einen sehr guten älteren Jungen. Sie ziehen ihn mit durch.
Als ich abreise, spüre ich, dass Rudra hofft, dass ich ihm vielleicht 500 Euro gebe fürs Haus. 700 bekam er schon von unseren Erdbebenspenden. Später schicke ich ihm Geld.
Diane sagte übrigens, still und verstehend in ihr Dorf eingefügt, dass sie ohne jeden Verein hilft. Auch nach dem Erdbeben von 2015 verzichtete sie aufs „e. V.“, das Spendenquittungen möglich macht. Sie rief in Kalifornien über Facebook zu einem „Crowd Funding“ (Geld sammeln) auf und bekam 30 000 Dollar. Vermutlich weil alles, was sie schrieb, so ehrlich klang. Sie wollte auch Rotarier einschalten, aber die gaben ihr ein Limit von einem Jahr, um hier ein Projekt durchzuziehen. Darum verzichtete sie darauf. „Keinen Druck. Die Nepalesen sind langsam. Sie brauchen mehr als ein Jahr.“
Sorgen hat sie, weil die von ihr unterstützte Schule strauchelt. Früher waren dort 90 Kinder, heute sind es nur noch 24. Weil die Familien in die Stadt ziehen.
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Hier das berühmte Gedicht, Jorge Borges aus Argentinien zugeschrieben:
„Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte –
im nächsten Leben würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen.
Ich würde nicht so perfekt sein wollen
ich würde mich mehr entspannen.
Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin
ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen.
Ich würde nicht so gesund leben.
Ich würde mehr riskieren
würde mehr reisen
Sonnenuntergänge betrachten
mehr bergsteigen
mehr in Flüssen schwimmen.
Ich war einer dieser klugen Menschen,
die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten.
Freilich hatte ich auch Momente der Freude,
aber wenn ich noch einmal anfangen könnte,
würde ich versuchen, nur mehr gute Augenblicke zu haben.
Falls du es noch nicht weißt,
aus diesen besteht nämlich das Leben,
nur aus Augenblicken;
vergiss nicht den jetzigen.
Wenn ich noch einmal leben könnte,
würde ich von Frühlingsbeginn an
bis in den Spätherbst hinein barfuß gehen.
Und ich würde mehr mit Kindern spielen,
wenn ich das Leben noch vor mir hätte.
Aber sehen Sie … ich bin 85 Jahre alt
Und ich weiß, dass ich bald sterben werde.“
32.
Ich träume von einem der Mädchen, mit dem ich oft auf dem Hof spiele, dass sie von ihrem Vater missbraucht wird. Ähnlich vermute ich es bei einem anderen Mädchen, weil es so abweisend gegenüber Männern ist. Ich sage Kul, dass es nötig wäre, eine Frau zu bestimmen, die gut mit Kindern umgehen kann, und sie in der Schule sprechen zu lassen. Dass jedes Kind, das so einen Missbrauch oder auch Gewalt erlebt, weiß, bei ihr bekommt es anonym Hilfe. Das gleiche sage ich später den Müttergruppen.
Kul versteht sofort und wird sehr ernst. Es gibt nur eine Frau – in Salleri –, die für die Frauenrechte eintritt, sagt er. Würde ein Missbrauch im Dorf bekannt, wird darüber geredet. Es gab einen Fall in jüngster Zeit, wo ein 53-Jähriger, reich geworden durch Landverkauf zu Gunsten des Wasserkraftwerks, aus der Spur geriet und ein zwölfjähriges Mädchen schwanger machte. Es gibt zwar einen „guy“ (Typ) in Salleri, der abtreibt, aber die Familie des Mädchens handelte nicht, weil ihre Tochter schon im fünften Monat war. Bis zum vierten Monat ist es erlaubt. Sie versteckten das Kind wochenweise an anderen Orten, bis nach Kathmandu, um es vor der „Freundschaft“ des Mannes zu bewahren.
Das ganze Dorf hatte nächtelang Debatten mit dem Mann, aber er sah nichts ein. „Es wurde sehr, sehr viel gesprochen, mit den Müttergruppen dabei.“ Schließlich fühlte er sich so unter Druck gesetzt, dass er die Polizei holen wollte. Umgekehrt verständigten jetzt die Frauen die Frauenbeauftragte in Salleri. Diese schaltete die Justiz ein. Sieben Jahre Gefängnis sind die Folge.
Das Mädchen gebar einen Jungen. Er ist jetzt sieben Monate alt, soll in ein Heim in Kathmandu kommen und zur Adoption freigegeben werden.
„Angpang hatte so einen starken Ruf. Es war hart, ihn aufzubauen“, sagt Kul. „Diese Gerichtssache hat viel zerstört.“
33.
Kul lief nach dem Erdbeben von 2015 von Tür zu Tür, um die Schäden aufzunehmen. „Dabei hab ich die Armen gesehen. Man muss was machen für sie. Sie können zwar leben, aber bloß essen und sitzen. Man sollte es ein bisschen verbessern.“
Dazu gehört, ihre Kinder in die Schulen zu bringen. „Wir haben zwar ein neues Schulprogramm, das die Lehrer verpflichtet, in die Häuser zu gehen, und die Kinder herauszuholen zum Einschulen. Aber dann gibt die Regierung den Schulen keine Lehrer! Also sucht keiner.“
Die Missstände sind kommunal gesehen ähnlich: Die Regierung setzt endlich auf Lokalparlamente in den Distrikten, lässt vor Ort mehr Macht zu, benützt dies aber auch aus, um vor Ort alles zu verteuern. Die Steuer für Land wird z. B. von einem Rupi pro Acre auf fünf oder zehn angehoben (650 m² sind 1,2 Acre). Die Heiratsgebühr steigt auf das Zehnfache. Geburtseinträge werden teurer. Kul: „Für jemanden, der nichts hat, keinen Rupi, und nur von seinem Land lebt, ist das unbezahlbar.“
Positiv ist immerhin, dass Kul nach Salleri bestellt wird (er war sehr ängstlich: was wollen sie von mir?) und dort vom Schulamt problemlos die Erlaubnis erhält, in Angpang die achte Klasse anzubieten. Als es vor einem Jahr um die siebte Klasse ging, war es schwieriger: Habt ihr die Mindestzahl von 20 Schülern?
Vor Kuls Haus sind jetzt jeden Tag vier Zimmerer im Einsatz und arbeiten in bewundernswertem Frieden. Sie machen aus Restbrettern von Kuls Neubau, d. h. aus den Übrigbleibseln seines alten Hauses, einfache Schulbänke und –tische. „Read Nepal“, eine Hilfsorganisation, hat dafür 600 Euro gestiftet. 50 Stück sollen nach einem speziellen Design entstehen. Die Männer haben ihre Kreissäge ins Eck gelegt, weil defekt (die Reparatur geht nur in Salleri) und sägen und meißeln alles von Hand, nur von einem Elektrohobel unterstützt. Sie kommen um 10 Uhr, kriegen mittags eine große Schüssel voll gekochter Kartoffeln, ungeschält, und gehen um 16.30 Uhr. Einer von ihnen könnte homosexuell sein. Aber er kehrt es nicht heraus. Es bleibt in dem Frieden.
In der Schule erzähle ich für die älteren Kinder von Deutschland. Nehme das Leben meiner Mutter, den Krieg und alle politischen Folgen für den einfachen Mann, ganz anschaulich. Später mache ich es noch einmal in einer anderen Klasse, erzähle von einer Waldorf-Lehrerin und von unserem Biobauern Hans Klischewski aus Hartenstein.
Englischlehrer Deek Dhan Kulung (25) ist ganz begeistert und erzählt umgekehrt von sich. Er ist ein immer lachender, sehr sportlicher Typ. „Zwar klein“, sagt Kul, „aber ein sehr guter Mann.“
Deek war 13 Jahre alt, als sich seine Mutter umbrachte. Eine Nachbarin machte es zwei Jahre später genauso.
Ihr Sohn Anante ist jetzt der neue Science-Lehrer (Wissenschaftsfächer) in Angpang. Er und Deek freuen sich, an der gleichen Schule zu sein und im nächsten Dorf im gleichen Haus zu wohnen – weil sie sich so gut kennen. Weil sie aus dem gleichen Volk der Kulung kommen. Weil ihre Heimat Bung so weit weg ist, im Osten, vielleicht zwei oder drei Tagesmärsche entfernt.
Bung hat ein ganz anderes Klima, viel wärmer, weil nur 1600 m hoch gelegen. Die Menschen dort haben auch andere Trachten, in den Naturfarben der Schafwolle, und andere Tänze. Kein Westler verirrt sich dorthin. Sponsoren für Schulen oder die Ausbildung fehlen.
Deek hatte nach dem College kein Geld, um Freunden zu folgen, die in Kathmandu weiterlernten. Oder nach Korea zu gehen, wo man das Zehnfache verdient. Er setzte seine Erwartungen einfach runter: „Nepal ist auch schön. Ich bin Nepalese und bleibe hier.“
Er stürzte sich ins Englisch-Studium (Bachelor), um weiterzukommen. Aber Angpang ist keine Endstation, obwohl er hier so freundlich aufgenommen wurde. „Jeder grüßt mich, wenn ich durchs Dorf gehe.“ Er träumt vom Regierungsdienst. Da verdient er zwar weniger, aber sein Ruf ist besser.
Deek spart, was er kann, für seine Geschwister. Denn sein Vater ist nur Maurer und Zimmerer und hat wenig Geld. Seinen Schülern sagt Deek immer: „Ihr müsst eine Lernbegier haben, ein desire.“ (Sehnsucht).
Deek lacht entschuldigend, als er auf dem Tisch im Lehrerzimmer primitiv anfängt, aus einfachsten Dingen etwas für den Physikunterricht zu basteln. Zwei Löffel veranschaulichen die konkaven und konvexen Linsen, ein simpler Plastikbehälter wird zum Messzylinder für Volumenberechnungen. „Ach ja“, seufzt er, „einen Beamer bräuchten wir ganz dringend. Wenn Sie da etwas tun könnten. 250 Euro. Dass wir den Kindern etwas zeigen können, lebendig an der Wand. Dann nehmen sie es viel besser auf.“
34.
Im Unterricht erzähle ich den Kindern auch über die Erkenntnisse beim Hausbau: Dass man erst den Bauplatz prüft, ob er überhaupt zum Bauen geeignet ist. Die Römer ließen z. B. lange ihre Tiere weiden und planten nur da ihr Schlafzimmer, wo die sich auf Dauer niederließen. In der Türkei ist jeder billige Appartementblock auf positive Flächen gebaut; die Parkplätze setzt man immer auf die negativen. In Äthiopien sind jeder Kindergarten und jede Schule bewusst gut platziert. Die alten Leute dort „sehen“ noch ohne jedes Meßgerät, wo der Boden gut oder schlecht ist.
Weil der Boden wie ein Mosaik ist, mit guten und schlechten Flecken, hat auch ein Klassenzimmer seine guten und schlechten Plätze. Sitzt nun ein Schüler dauernd auf einem schlechten Platz, ist er immer müde und ohne Energie. Darum sollte man oft die Plätze tauschen. Englischlehrer Deek tut es vom nächsten Tag an.
Ich erzähle auch von Babys, die man nicht in einem Bett festhalten sollte, wo sie unruhig schlafen oder schreien. Besser mal ein großes Matratzenfeld auslegen und warten, wohin das Baby dort nachts im Schlaf rutscht. Das ist dann ein guter künftiger Ort für sein Bettchen.
Ich träume in der nächsten Nacht, dass eine Schülerin dieses Wissen – das sich auch nur von einem Freund habe, der sich sehr damit befasst – und generell die Wissensmöglichkeiten des Westens so gern hätte. Sie fühlt sich in Angpang und Nepal wie in einem rauen, wachstumslosen Land.
Dieser Freund klappert die ganze Welt ab und findet überall – im Iran, in Tibet – dieses Wissen ums gesunde Bauen, nur in Deutschland nicht. Hier haben nur die katholischen Kirchenarchitekten eine Ahnung davon – und geben sie nicht in den Wohnungsbau weiter.
Die Schülerin, von der ich träumte, weiß aber nicht, dass wir technisierten Westler genau ihr Dorf, ihr Land wegen seiner rauen Urtümlichkeit so lieben. Ich lese z. B. in Angpang ein Buch von Jamie Zeppa, Beyond the sky and the earth. A journey into Bhutan. Die junge Kanadierin unterrichtete dort, heiratete hin und blieb lange. Sie schrieb am Anfang in ihr Tagebuch: „Ich versuche mir vorzustellen, wer ich wäre, wenn ich mein ganzes Leben hier gelebt hätte, bei diesem Tempel am Fluss. Ich frage mich, was ich gerne haben würde, wenn ich ohne Reklame aufgewachsen wäre, die mir meine Herzenswünsche erzählt: schlanker zu sein, reicher, sexier. Wenn ich stattdessen 24 Stunden damit verbracht hätte, das stille Gewicht der Berge in mir aufzunehmen, den ständigen Strom des Flusses, den Klang von heißem weißen Licht, das in schwarze Felsen brennt.“
35.
Rudra, der Cousin von Kul, kommt mit seinem Neubau schnell voran. Die Jungs von Beli Danda verputzen gerade. Nach meinem fachmännischen Urteil nehmen sie aber viel zu wenig Wasser in den Mörtel. Alles rieselt runter. Aber irgendwie klappt‘s. Rudra sagt: Weil das Gemisch so trocken ist, spritzt man danach die verputzte Außenwand eine Woche lang jeden Tag dreimal nass. Dann hält das Zeug. Er seufzt. „Mein Haus wächst, aber mein Geld schrumpft.“ Ich denke mir: Er hat viel zu groß gebaut.
Seine Frau Chini betrachtet auf meinem Smartphone sehnsuchtsvoll das Bild eines neuen Swiss-Style-Hauses am Weg zum Everest, klein und wunderbar mit viel Naturholz. So etwas entspricht ihr viel mehr.
Kul geht in den letzten zwei Nächten oft zu einem seiner Wasserbüffel, weil er krank ist. Am Ende muss er den Veterinär aus Okhaldhunga holen, 20 Euro. Er ist ein schlanker stiller Mann in altem Hemd und Jeans und mit guten Händen. Die Kinder drängen sich dicht heran, was er da macht mit seinen kleinen Sachen aus dem abgetragenen Rucksack, mit Spritze und Fläschchen. Die Büffel sind für Kul so wichtig wie Eltern, sagt er. Sie gehören zur Familie. Ohne sie kein Pflügen. Und sie pflügen gut, sie kennen sich aus. Neue Büffel können gefährlich sein.
Unten im Dorf starb ein alter Mann. Kul sagt, man sollte immer außerhalb vom Haus sterben, irgendwo daneben liegen, fern von Nägeln und hartem Material. Und nach dem Tod sollte gleich die Verbrennung sein.
Kul erzählt auch von einem jungen Mann aus Kerung, der nach seinem Abschluss der zwölften Klasse verunglückte. Mit seinem Freund, dem besten Sportler des Solukhumbu-Distrikts, saß er in einem Taxi-Jeep, der abstürzte. Sein Freund starb. Er selbst war so verletzt, dass es die Ärzte als ein Wunder bezeichnen, dass er mit der Hilfe eines Stocks wieder humpelnd laufen kann. Diesem Jungen, sagt Kul, sollten wir auch mit einer jährlichen Unterstützung helfen, damit er eine Ausbildung schafft, die ihn später ernährt. Er möchte Labortechniker werden. Seine Mutter hatte ihn verlassen, als er drei Jahre alt war. Seine Stiefmutter sprach Kul bei der Hochzeitsfeier um Hilfe an, wo ich so viel getanzt hatte. Sie telefonierte danach immer wieder mit Kul: Bitte hilf.
Die junge Maurer-Clique aus Beli Danda macht kurz Mittagspause. Einer nimmt sich meinen Permanent-Filzstift und malt sich ein Tattoo auf den Arm. Andere sichten ihre Smartphones oder schauen Fernsehen in Rudras brüchigem Mini-Anbau, wo seine Familie gedrängt lebt, bis das neue Haus fertig ist. Der junge Maurer mit dem gefärbten Haar, der bestimmt Kuls Kritik erregen würde, ist der Klügste. Ich denke immer, so etwas Flippiges ist ein Zeichen von Kreativität, von selbstständigem Denken und von Aufbruchwillen.
Kul schimpft, dass zwei Mädchen im Dorf, 15 und 16 Jahre alt, viel zu früh heirateten. „Ihre Eltern sind schuld.“ Eins war eine Liebesheirat, die andere Hochzeit wurde arrangiert. Gegen diese frühen Heiraten tritt auch der österreichische Verein „Roots for Life“ ein, den ich via Facebook fand. Ich suchte nach „Carola Gosch Nepal“, weil ihr Name auf einem neuen Folien-Gewächshaus am Rand von Angpang steht. Sie antwortete aus Graz. Ihr Roots-Verein unterstützt im Nachbardorf von Angpang und in mehreren anderen Orten (auch bei Kathmandu) – eine bewundernswerte Leistung.
Kul schüttelt auch den Kopf über die Jungs, die 1,5 Monatslöhne opfern, um sich ein Smartphone zu kaufen. Dann investieren sie 400 Euro in ein Motorrad aus dritter Hand. Danach kommt ein Fernseher. „Und ihre Eltern lassen sich das alles gefallen.“ Kul würde sie lieber in der Ausbildung „10+2“ sehen, in einem Fernstudium neben dem Job. Aber keiner hört auf ihn. „Mit 45 bereuen sie das.“
Doch bei seinem neuen Haus folgte Kul auch einem westlichen Trend. Er nahm nämlich außen blau verspiegelte Fensterscheiben, wie sie in den Hochhäusern von Kathmandu modern sind. Ich kam erst spät drauf, dass ich deshalb in meinem Zimmer jeden Morgen halb depressiv aufwache, weil diese Verspiegelung die Atmosphäre innen ruiniert. Lasse ich alle Fenster offen, bin ich in guter Stimmung. Das erinnert mich wieder an meinen Freund mit dem Architekturfaible. Er sagt: Hab nix im Schlafzimmer, was spiegelt. Stell nix unters Bett. Räum gut auf.
Zu Traumbildern haben Nepalesen übrigens eigene Erklärungen. Taucht etwa Reis auf oder Gerste, ist das genauso positiv wie Früchte oder Joghurt, wie Milch oder grünes Gras. Blumen sind „very nice“, erklärt Kul, und eine Schlange steht für die Seele eines Toten. Mond und Sonne sind gut, ein Priester ist okay. Gibt dir jemand Geld, hast du bald Probleme im Leben. Verlierst du Geld, ist es okay. Fliegen ist okay, auch weißer Schnee und Berge. Aber die Farbe Schwarz ist schlecht, egal wo sie auftaucht.
Im Wochenlauf gibt es gute und schlechte Tage. Gut ist z. B. der Montag, um etwas zu beginnen (auch Ackern) und der Mittwoch für die Rückkehr von einer Reise. Start-Tage für eine Reise werden vorher auch mit viel Innenschau ausgesucht. Und Kul mustert in jedem Gasthaus stumm die Stühle und Bänke, wo der beste Platz zum Hinsetzen ist. Ich mach das genauso, und wir sind immer wortlos einig.
Über der Tür seines Hauses, im Parterre, wo alles wie im deutschen Keller durcheinander aufgehoben wird (das Wohnen ist oben), hängt ein Glück bringendes altes Hufeisen. Kul fand es an einem Dienstag, was super ist. Ansonsten ist ein Dienstag nicht so gut.
Und, letzte Notiz: Kul sah im Fernsehen eine Parlamentsdebatte. Er war entsetzt. „Ein Teil hat geschlafen! Viele Abgeordnete waren gar nicht da. Wenn ich da drin wäre, ich würde eine Tischplatte durchschlagen, um mich durchzusetzen, damit sie aufwachen.“
36.
Ich frage Kul, ob ich mit den Müttergruppen sprechen kann. Kul hält nicht viel davon. Widerwillig setzt er sich vor das neue Marktgebäude und sagt, es kommt keiner. Aber die Frauen strömen herbei. Es ist so ein eindrucksvolles Bild, wie verschieden jede ist, wie sie mit ihren malerischen Gewändern oben auf dem Balkon sitzen und unten am Hang, dicht an dicht.
Interessanterweise stellen sich auch Männer dazu: Ungefähr sieben, darunter das leitende Dorfteam. Sie antworten manchmal einfach auch, was ein gutes Zeichen ist: Es gibt keine Trennung. Aber meistens hören sie aufmerksam zu.
Ganz am Anfang taucht unterhalb ein Mädchen auf, vielleicht 17, in Leggins, ganz modern. Sie ist verführend schön und klug. Sie lacht. Sie will nur einen Geldschein wechseln, dann geht sie wieder. Sie ist eine komplett andere Welt, hat nichts mehr mit dem Land zu tun, ist durch ihre Bildung und Klugheit abgeschieden vom Land und auf einem neuen Weg.
Sie hat auch etwas Ego-Härte in sich. Das erinnert mich an das Gespräch mit den Lehrern in Maidane, am großen Tisch. Dort sah ich drei Lehrer, die nicht mehr das herzliche „Nepal“ waren, nicht mehr resistent gegen die Kühle des Intellekts. Ihre Bildung hatte sie zu Westlern gemacht. Aber alle anderen Lehrer waren noch weichherzig und freundlich, trotz ihres Wissens.
Jetzt beim Gespräch mit den Frauen gewinnt Kul langsam Interesse und ist dann doch aufmerksam dabei. Ich warne erst einmal – das ist aber alles Kleinkram – vor Spiegelglas beim Hausbau und vor geschältem Reis im Essen und vor zu viel Fernsehen und vor zu langem Computerspiel bei den Kindern. Weil z. B. die Jungs von Chini bis 23 Uhr vor dem TV sitzen und dann tagsüber schnell ins Aggressive kippen, weil sie nicht ausgeschlafen sind.
Dann frage ich die Mütter – sie kommen von zwei der fünf Gruppen des Dorfes (die 24 und 30 Mitglieder stark sind) – welche Ideen sie haben, wenn sie von KvN etwas Geld für eigene Projekte bekommen. Große Tiere zu kaufen, lehnen sie ab, weil das Futter nicht reicht. Nur eine Frau spricht sich für Hühner aus und eine für Ziegen. Aber sie würden gerne Pilze züchten. Dazu hatten sie einmal einen Kurs. Ausländer stifteten den Samen. Und innerhalb eines Jahres hatte jede Familie etwas davon. Auch der Verkauf von Überschuss war kein Problem.
Aufstellen könnte man das Pilzgewächshaus (ein Folientunnel) im dunklen und feuchten Barackenbau der früheren Schule.
Auch zwei Gewächshäuser für Gemüse wären gut. Den Profit könnte man in Hühnerzucht stecken. Kul: „Zwei Gruppen könnten sich um die Gewächshäuser kümmern. Dann gibt es eine Konkurrenz. Das treibt an.“
Ich frage dann, ob die Frauen nicht mitregieren wollen in Angpang. Sie könnten ja ein Vier-Frauen-Team an die Seite des Vier-Männer-Teams stellen. Interessanterweise übersetzt Kul diese Frage dreimal falsch, immer in Bezug auf Landwirtschaft – vielleicht, weil er unbewusst nichts davon wissen will. Als er dann doch richtig übersetzt, kommt ein donnerndes, freudiges „Ja!“ von den Frauen.
Diese Begeisterung lässt Kul geknickt zurück. „Ja aber“, sagt er, „die Frauen brauchen das doch gar nicht. Sie sind doch schon in Führungspositionen.“ Zum Beispiel ist eine Frau die zweite Vorsitzende der Wasserkraft-AG und Schatzmeisterin. Und vier der elf leitenden Mitglieder der Save & Credit-AG (Genossenschaftsbank) sind Frauen. Aber ich bleibe extra unnachgiebig: „Zu wenig.“
Dann frage ich nach den Hochzeiten. Ob immer noch von den Eltern bestimmt wird, welche Kinder zusammenkommen. „Nein“, lacht eine Frau mit sehr offenem Gesicht, „die Jugendlichen machen das doch alles untereinander mit dem Handy aus.“
Und eine Eheberatung vor der Partnerschaft: Ist das nicht sinnvoll? Wo ältere Paare den jungen Leuten ihre Erfahrungen schildern können? Die Frauen lachen drüber.
Ich schlage auch eine Art Ombuds- Frau vor, die im Fall von häuslicher Gewalt oder Missbrauch für die Kinder da ist, anonym helfend. Kein Echo. Aber ich sage es später noch einmal, bei meinem Abschied. Ich denke mir, wenn man es öfter anregt, kommt es schon.
Am Schluss bekomme ich starken Beifall von allen Frauen.
Später erzählt Kul an einem Beispiel, welch gute Stellung die Frauen doch haben, in der Familie. Denn als er und Fescher mit voller Power die neue Schule planten und bauten, streikten ihre Frauen. „Unsere Felder vergammeln“, hieß es, „wir kochen euch nix mehr!“ Kul ging zu Feschers Frau und sagte, sie solle nicht so schimpfen. Aber es half nicht. Am Ende gab er der Oma insgeheim Geld, damit sie für die Feldarbeit einen Helfer bezahlt.
Eine stille junge Frau traf ich einmal auf dem Dorfweg. Sie war allein unterwegs und sprach mich freundlich mit etwas Englisch an. Ich solle Grüße ausrichten an Christine Wilhelmi aus Hamburg, die über ihren Verein „Kinder in Okhaldhunga“ das Schulzentrum in Maidane aufgebaut hatte. Dort war diese Frau, Somita Magar, unter den ersten Schulabgängern gewesen, nach acht Klassen. Anschließend fand sie eine Ausbildung im landwirtschaftlichen Institut der Kleinstadt Jiri, das von Schweizern unterstützt wird. Jetzt lebt sie in Angpang, hat ein Kind und kam gerade aus Kerung zurück. Dort erledigte sie die Geburtsanmeldung und nahm an einer landwirtschaftlichen Tagung teil, weil sie Mitglied in einer Agrar-AG ist.
Auf dem gleichen Weg traf ich am nächsten Tag einen freundlichen älteren Mann, der in Kathmandu lebt, aber in Angpang etwas unterhalb vom Dorfhang sein Elternhaus hat. Er war zum Urlaub hier. Sein Vater war der Vorsitzende der Schul-AG gewesen, starb aber schon mit 62 Jahren. Er als Sohn wollte Lehrer werden, aber Kul – er ist sein Onkel – riet ihm, zur Armee zu gehen. Kul gab ihm als Ferienjob immer wieder Trekking-Anstellungen, so dass er gut durch die Ausbildung kam. Jetzt ist er gut situiert in der Armeeverwaltung. Dieser Mann sagte: „Die Leute von Angpang vergessen die deutsche Hilfe nicht, auch wenn Jahre darüber vergehen und eure Hilfe einmal nicht mehr möglich sein sollte.“
37.
Abschied von Angpang. Auf dem Schulhof. Die Zimmerer, die am Morgen noch die neuen Schulbänke zusammensteckten, ohne Schraubzwingen, nur mit kleinen Keilen und Holzleim, sitzen jetzt bei den leitenden Männern des Dorfes, weil sie auch dazugehören. Die Frauen der Webgruppe sind gekommen. Sie sind froh, dass KvN sie so ermutigt und beim Verkauf hilft. Eine der Frauen hat die ganze Nacht durch einen Stoff für mich gewebt, zum Mitnehmen, in neuem Design. Alle Lehrer-innen stehen bereit. Die Schüler. Ich sage nur ganz kurz was, noch einmal zur notwendigen Ombudsfrau (damit daheim unterdrückte Kinder ihre Sorgen erzählen können), dann dass alle Menschen in Deutschland gerne in Angpang helfen, weil sie wissen, dass das Dorf selbst so aktiv ist und weil es beim Verteilen der Spenden keine Korruption gibt.
Am nächsten Morgen, früh um 5 Uhr, kommt der Abschied vor Kuls Haus. Alle Kinder sind da, auch Punam von weither. So viel Freundschaft. Ich merke, dass ich durch das lange Hierbleiben jedem ganz nah bin, ihn nicht mehr vergesse daheim, auch wenn ich wieder autofahre, fernsehschaue, in unserem „luxuriösen“ Haus bin mit unserem super Badezimmer. Nix mehr Wellblech um ein kleines Toiletten-Viereck herum auf dem Hof (wo ich nachts mal meine Stirnlampe verliere und sie im Loch verschwinden seh, leuchtend).
Auch jetzt daheim ist mir mehr als früher bewusst, dass gleichzeitig, wo ich hier den Text schreibe, in Angpang die Frauen in den Feldern arbeiten, die Mütter in ihren dunklen Küchen kochen; Durga, Ram und Raju arme Leute beraten, die für einen Kredit in ihre Bank kommen. Die Ochsen ruckeln Tag für Tag ergeben an ihren kurzen Stricken und die Wolken ziehen weiter über das immer etwas kühle Tal.
Im Jeep, der immer mehr Menschen aufnimmt, fahren wir dann durch die steilen Berge und Dörfer, entlang an strohgedeckten Häusern – bilderbuchschön -, immer tiefer herunter in eine sauna-warme Talebene, auf Kathmandu zu. Kul erzählt dabei von zwei Erfolgen, die in seinem Leben das Wichtigste sind: Die Gründung seiner Schule und das Stoppen von teuren Ausgaben bei Festen.
Für die Schule kämpfte er sechs Jahre fast allein, nur von Feshers Vater unterstützt. Von den 69 Familien seiner Hangseite (der andere Hang hatte eine alte Schule, nur war sie nach der Schneeschmelze unerreichbar für die Kinder von Kuls Hang) hörte er immer wieder: Nein, brauchen wir nicht. Aber am Schluss packten sie doch mit an. Den Stolz auf dieses Selbst-Gebaute spürte ich, als meine Abschiedsfeier ablief.
Dann die Feste: Kul setzte durch, dass jeder Gast nur so viel Reis isst bei den Hochzeiten und Beerdigungen, wie er verkraften kann, und nicht 2 kg mitnimmt. Heute kopiert das ganze Tal diese Idee, bis weit hinein in den Distrikt. Aber am Anfang gab es deswegen eine Rauferei. Eine teure Zeltplane zerriss. Nur Fesher und Ratna halfen Kul.
Neue Ideen durchzubringen, ist nicht einfach, sagt Kul. Es kam z. B. einmal ein reicher Amerikaner, der zuhause alles verkauft hatte, um mit seinen Millionen in Nepal zu helfen. Er kannte den Bruder der Königin, traf aber auf so einen arroganten Kronprinzen, dass er lieber zwei politische Parteien fragte, wo er starten könnte. Doch jede Partei wollte sein Geld nur in ihrer Kasse. So ging er nach Indien und fand im Gouverneur von Gudjarath einen ehrlichen Mann. Heute sind dort Straßen gebaut und Windkraft ist installiert.
Während wir weiterfahren, Flüsse durchqueren und tiefen Schlaglöchern ausweichen, denke ich an meine Gespräche mit alten Männern in Angpang (ich stelle sie an den Schluss des Reiseberichts, Nr. 40 bis 45) und was ich daraus lernen konnte: Jetzt etwas tun. Denn sie bedauerten alle, dass sie so schwach geworden sind, dass ihre verbliebenen Träume nicht mehr machbar sind.
Wir fahren hinter Lastwagen her, die auf ihre Bordbretter geschrieben haben: „No time for love“ und „Buddha was born in Nepal“ (sein Geburtstag am 10. Mai ist sogar ein Feiertag) . Auch sie rumpeln genau wie unser Jeep unter wuchtigen Betonstützen her, die ins Nichts hochragen und einmal Brücken tragen sollen.
Jeder Mensch ist wie das Holzstück einer Brücke in die Zukunft, denke ich mir dabei. Egal ob es lang oder kurz, ist es wichtig, dass es an seinem Platz bleibt.
Wir tauchen in die Bau-Wüste von Kathmandu ein. Kul will unseren Fahrer dazu bewegen, ein Innenstadt-Ticket zu kaufen, damit er direkt ins Zentrum fahren kann. Aber das Büro hat zu. Also muss er wie alle Transportfahrzeuge über Seitenwege reinschleichen, am Flughafen entlang.
Einige unserer Fahrgäste steigen früher aus. Ich sehe dabei, wie sich am Gehsteig zwei Männer treffen und freundlich begrüßen. „Das werde ich vermissen“, denke ich plötzlich, diesen freundlichen, friedlichen, sanften Umgang der Menschen miteinander.
Am nächsten Morgen in der schönen Altstadt weiß ich wieder, warum ich in Angpang doch sehr gern nach Kathmandu wollte. Denn in der Mitte ist der moderne, hässliche Mietshausmoloch verschwunden. Die kleinen Läden, die Tempel, die guten Männer an den Rikschas und am Boden, hinter den Schuhputzkästchen – dieses ganze „Tausend-und-eine-Nacht“ bringen mir uralte Zeiten so idyllisch näher.
38.
Jetzt geht es nur noch darum, ein bisschen Kunsthandwerk einzukaufen für die Adventsmärkte daheim, zu Gunsten unserer Nepalhilfe. Das ist nicht einfach. Denn was passt für den deutschen Geschmack? Als ich das Ergebnis später daheim auspacke, sagt Lena, meine treue Mitverkäuferin am Weihnachtsmarkt in Auerbach: „Typisch Männergeschmack, was du gekauft hast. Frauen machen das anders.“ Und zu meiner Frau gewandt: „Wir müssen selber mal hinfahren.“ Und das Wunder: Avis stimmt zu. Fährt also auch mal mit hin. Dementiert aber später wieder.
Ich bemühe mich, in Kathmandu in vielen kleinen Läden am Rand einzukaufen, wo kaum ein Tourist hinkommt. Und auch in das alte Hippieviertel zu gehen, wo früher der Himmel auf Erden war, in die Freakstreet. Dort ist ein kleines Geschäft hinter hellblauen Läden hingeduckt, wo eine schmale Oma mit grauen Haaren das beste Angebot der ganzen Stadt zu haben scheint, in Bezug auf kunstvolle Taschen und Patchwork-Decken. Sie hat elf Kinder. Eine Tochter, 30, ist mit im Laden. Sie kann weder schreiben noch lesen, weil das Geld nicht für alle Kinder reichte. Wir unterhalten uns fröhlich und ihre Mutter schenkt mir am Schluss eine Decke aus alten Stoffteilen, die eine ältere Dame näht, die noch den Goldschmuck in der Nase hat. Diese Dame, sagt die Oma, ist eine begeisterte Näherin. Sie sammelt alte Tempelstoffe und näht und näht, Tag und Nacht. So schön. Alle Berliner würden drauf abfahren. Aber die Pegnitzer sind bodenständiger.
Drei Läden weiter sitzt ein freundlicher Herr an der Nähmaschine und fertigt bunte Aufnäher, komplizierte Blumenmuster oder Comic-Aufträge aus Europa. Er hat ein deutsches Ehepaar, das solche Motive im Internet anbietet. Dessen Kunden sind Vereine, die ihr Logo genäht haben wollen, zum Beispiel ein norddeutscher Radfahrerclub. „Ich mach alles“, sagt der Mann. „Seit 25 Jahren nähe ich für dieses Ehepaar. Das ist mein Haupteinkommen.“
Zum Essen gehe ich immer in ein ganz kleines Lokal, das viele alternative Touristen anzieht und auch einen bärtigen Hippie aus Amerika, der barfuss jeden Tag kommt, sein Töchterchen auf dem Arm. Er wohnt ums Eck.
Dort sitze ich einmal bei einem nepalesischen Mann, der gegenüber im Mittelklassehotel wohnt, dort aber keinen so guten Tee (mit Zimt) bekommt wie hier. Er stammt aus einem Dorf, war aber auf einer englischen Boardingschool in Kathmandu und lebt jetzt in den USA. Nach fünf Jahren mit der Greencard bekam er die Staatsbürgerschaft und holte seine Frau und die Kinder nach. Was er in der Computerbranche verdient, steckt er jetzt in einen kleinen Nepalverein. Aber er verzweifelt jedes Mal, wenn er wieder hier ist und das Geld in abgelegenen Gegenden einsetzen will. „Überall gibt’s Probleme, immer Hürden. Du kannst keinem Offiziellen trauen in Nepal.“
Ist es in Amerika besser? „Nein. Jedes Land hat seine Vor- und Nachteile.“
Am Ende lässt er sich nicht davon abbringen, mir mein Essen zu bezahlen. „Weil Sie als Fremder so viel für unser Land tun.“
Dann kommt der Wahltag. Nicht alle Distrikte wählen jetzt die neuen Lokalparlamente, aber auch Kathmandu. Dafür wird ein autofreier Tag ausgerufen. Das ist die wunderbare Chance, abgasfrei zur großen Stupa von Boudhanath zu laufen. Unterwegs sehe ich viele Soldaten und Polizisten, die an Plätzen mit Wahlschlangen aufpassen. Am Ende des Tages kommt im Radio die Nachricht, dass im nahen Kantipur ein protestierender Mann erschossen wurde, ein anderer verletzt.
Auf dem Heimweg komme ich an einem winzigen Stand vorbei, den eine Frau am Gehsteig betreibt. Sie stellt gerade einem streunenden Hund ein bisschen Wasser hin. Das sind die guten Frauen, wie ich sie auch in einem schmalen Imbiss in einem untouristischen Teil der Altstadt fand. Dort fertigen zwei Frauen feine Momo (Teigtaschen), mit kunstvoller Fingertechnik, bescheiden und herzlich. Ihr Imbisszimmerchen ist so klein, dass sie nur drin hocken können. Durch die Tür zur Straße fällt mein Blick auf vorbeieilende Menschen, die immer nur für Sekunden im Rahmen zu sehen sind: Schulkinder und Frauen, schmale Männer und Handwerker – Bilder wie für einen Film.
Kul nimmt mich dann zur Post mit, weil ein Tourist sofort die Wucherpreise senkt, welche die Beamten sonst abnehmen. Es ist ein riesiges altes Gebäude, an dessem Ende alles im Freien in der Sonne abläuft. Dort wuselt es an Tischen und Stühlen. Einheimische blicken voll durch, welche Formulare sie brauchen. Und die Fremden fragen, wie sie ihre Gitarre nach Brasilien bekommen und Geschenke nach Florida. Wir schicken die Hälfte des Kunsthandwerks heim – unter 20 kg, trotzdem 110 Euro Porto.
Alles wird eingenäht. Der Nähmeister hat feine Finger und vollen Durchblick. Dann kracht‘s plötzlich: Jemand schob am Tresen herum, bei schweren Kartons. Und einer davon fiel dem Siegelmeister vor den Schemel. Er köchelt an einer dunkelroten Masse herum und stempelt die Nähkunst an allen losen Ecken und Enden fest.
So endet mein Ausflug nach Nepal. Ich tröste mich: Irgendwann muss es zu Ende sein. Kein Rumtun. Ich hab genug erlebt. Es war wie ein Geschenk.
PS: Am letzten Tag in Angpang hatte ich sogar 1,5 Erleuchtungen. Denn zuerst saß ich da, in Kuls Gästezimmer, sah so vor mich hin, und hatte plötzlich den Blick fürs „Leben“. Ich sah, was Leben ist. Wie ein Glanz. „Das ist also Leben“, dachte ich mir.
Und dann kam ich drauf, dass ich bei allem, was ich mache, immer voll dabei sein muss. Ganz dabei. Das ist die 1,0 Erleuchtung. Ganz wichtig, wie ich später erfuhr, weil nämlich in einem Trendmagazin stand, dass ein indischer Guru als Wichtigstes lehrt: Sei bei allem voll dabei. Und ein Engländer, der teure Kurse gibt, sagt dasselbe: Sei im Jetzt, im Moment, da.
Das passt zur alten Zen-Geschichte, wo drei junge Schüler über ihre Meister sprechen, und sie loben, wie besonders sie sind. Sagt der eine. „Mein Meister kann in der Luft schweben.“ Sagt der andere: „Das ist gar nix. Meiner kann sich an einen anderen Ort beamen.“ Und der dritte, der Sieger-Youngster sagt: „Mein Meister ist der Beste. Weil er nämlich, wenn er Rasen mäht, Rasen mäht.“